Die Alben des Jahres 2016: 30 bis 21

by on 2. Januar 2017 in Jahrescharts 2016

Honorable Mentions | MV(E)P  | 50 – 41 | 40 – 31 | 30 – 21 | 20 – 11 | 10 – 01 |

All Diese Gewalt - Welt in Klammern30. All Diese Gewalt – Welt in Klammern

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„Ich kann es spüren. Hinter den Dingen, unter der Struktur„. Genau dort findet sich diese Welt in Klammern. Im Zwielicht aufgelöster Konturen und in der eingängigen Abgründigkeit, für die All Diese Gewalt steht. Wo Popmusik eine niemals wirklich greifbare Schönheit im nebulösen Niemansland zwischen den Genres meint, von Drone über Ambient bis Electronica alle Grenzen assimiliert. In der die Wahrnehmung mit einer melancholischen Unwirklichkeit unter die Haut kriecht und mit immaginativer Kraft das Kopfkino ankurbelt. In den schier unendlichen (und unendlich detailierten!) Weiten der Klangräume, die Max Rieger – dieser ketterauchende Existenzialist mit Rollkragenpulli – auf dem zweiten Langspieler seines Soloalbums aus mehreren hundert Soundspuren zaubert, in denen jedes Element wie unter Hypnose an seinen Platz findet und im so organischen Fluss der Platte treibt.
Doch vorsicht: Ja, Rieger ist wohl das beste, was derzeit einem Album aus produktionstechnischer Sicht passieren kann (nachzuhören etwa bei Karies und idealerweise auch bei der Anachronismus-Hitschleuder Drangsal), denn ja, alleine die rauschhafte Atmosphäre und die aus dem Alltag gelöste Stummung seiner Welt in Klammern ist schlicht beispiellos dicht gestrickt und gleichzeitig weitläufig offen. Den Tausendsassa aus Stuttgart aber auf seine hart erarbeitete Klasse in diesem Bereich zu beschränken, wär schlichtweg falsch: Hier reihen sich schließlich zehn in sich geschlossene Kompositionsjuwelen aneinander, in die man sich immer wieder verlieren möchte.

Crippled Black Phoenix - Bronze29. Crippled Black Phoenix – Bronze

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Wem Crippled Black Phoenix nach dem dritten Wechsel des Frontmannes (oder vielmehr: Sängers) untergekommen sind, dann wohl nicht ausschließlich aufgrund musikalischer Glanztaten wie zu Joe Volks Zeiten, sondern vielleicht eher durch mal mehr, mal weniger ernstzunehmende Social Media-Dramen. Mastermind Justin Greaves machte die letzten Jahre einen wenig stabilen Eindruck, was sich auch musikalisch immer stärker äußerte, und so war die Vorfreude auf neue Musik aus dem Hause CBP eher gedämpft. Umso größer die Erleichterung, als mit Bronze quasi aus dem Nichts ein astreiner Anwärter auf das beste Album der Briten seit inklusive Mankind (The Crafty Ape) aus dem Boden gestampft wurde, mit allen, seit I, Vigilante nicht mehr gehörten großen, auf den Punkt gebrachten Gesten. Mit angezogenem Härtegrad wird sich über Pink Floyd (klar) bis Black Sabbath (weniger klar)-Verehrung gehangelt, kann Gesangs-Stiefkind Daniel Änghede endlich aus dem Schatten Joe Volks treten, und liefert Belinda Kordic einen – nicht den einzigen – an die Frühwerke der Band gemahnenden Gänsehautmoment ab. Ein prophetischer Albumtitel, was die Eingliederung in die Diskographie von Crippled Black Phoenix betrifft.

Leonard Cohen - You Want it Darker28. Leonard Cohen – You Want it Darker

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I intend to live forever” meinte Leonard Cohen auf die Tatsache angesprochen, dass You Want it Darker doch wie ein Epilog auf seine Karriere, sein Leben, klingt, dass er seine Lebenszeit unmittelbar während der Fertigstellung seines vierzehnten – und letzten – Albums langsam schwinden fühlte. Und es als letzten Kraftakt zu bezeichnen, würde der unsterblichen Karriere des Kanadiers nicht gerecht werden. Keine Spur von einem Aufbäumen, von verborgener Resignation: er adressiert sich, sein Leben, die Liebe, verbreitet diese typische Wärme – Cohen-Alben waren immer, wie heimkommen. Bei aller Selbstreflexion vergisst Cohen auch nicht darauf, sein Publikum in den Arm zu nehmen, mit I wish there was a treaty between your love and mine sollte er sich verabschieden. Zwar wird You Want it Darker immer mit dem Tod Cohens in Verbindung gebracht werden, durch die Dunkelheit und Sterblichkeit schimmert allerdings zu jeder Zeit diese Coheneske Leichtfüßigkeit und das verschmitzte Grinsen, das seine Songs über Liebe und Hass immer ausgezeichnet hat.

Ryley Walker – Golden Sings That Have Been Sung27. Ryley Walker – Golden Sings That Have Been Sung

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Ryley Walker bleibt ein rastloser Geist, ein Getriebener – nach der Van Morrison-Verneigung Primrose Green im Vorjahr gab es unmittelbar das Gitarrengipfeltreffen mit Bill MacKay auf Land Of Plenty, bevor zum 2016er-Record Store Day mit Cannots das Debütalbum der Kooperation mit Schlagzeuger Charles Rumback erschien. Und doch fühlt sich Golden Sings That Have Been Sung nun wie ein harmonisches Nachhausekommen an: Weicher, runder, versöhnlicher und deutlicher im Einklang mit sich und seinen stets so präsent-prägenden Idolen klang Walker jedenfalls noch nie. Alles hier fühlt sich so natürlich gewachsen an, wie die wohlig in ihren Melodien schwebenden Songs auch wirklich entstanden sind: „I would go to LeRoy’s house every other day with a riff, and we would take it from there.“ erinnert sich Walker an die Sessions mit Produzent Bach – tatsächlich kann man den Einfluss, den der Wilco-Multiinstrumentalist auf diese wärmende Ohrenbalsam-Platte hatte, dann auch kaum groß genug einschätzen. An der Grundfeststellung ändert dies freilich nichts: der Traditionalist Walker ist längst zu einem der ganz großen des jungen Folk aufgestiegen. Einladender als auf dem geschmeidigen Golden Sings That Have Been Sung (das im Vergleich zu den regulären Vorgängerplatten erstmals wie kein Kraftakt, sondern wie eine formvollendete Fingerübung daherkommt) lässt sich dies kaum proklamieren.

Steve Gunn - Eyes on the Lines26. Steve Gunn – Eyes on the Lines

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Steve Gunn befindet sich auf seinem ersten Studioalbum für Matador on the Road – aber nur vermeintlicherweise auf einer to nowhere. Schließlich begegnet er, ob Eyes on the Lines nun verträumt driftet oder den Fahrtwind mit entspanntem Zug spüren lässt, auf seinem Weg nicht nur einer Handvoll waschechter Hits („These are songs you can take in quickly, but spend all the time in the world devouring.“ – richtig!), die mit weitläufiger Hand den Horizont anpeilen und dabei eine Eingängigkeit begrüßen, zu der Kurt Vile so zuletzt keine Lust hatte – sondern der Mann aus Brooklyn findet hier immer wieder ein Stück weit zu sich selbst. „Here is where we’ll get nowhere/And everywhere is there now“ ist nur eine der vielen kleinen Weisheiten, die Gunn vor seiner hervorragenden Backingband in den Sinn kommen, während Eyes in the Lines mit so unheimlich viel Gefühl und ohne jeden Zwang ein fokussiertes Songwriting atmet, das seine Freiheit mit dankbarer, unaufgeregter Anmut geniest. „You were lost on the road from a different way/Pushed too far from miles away/ Figure it out, Jules would say/ Take your time, ease up, and waste the day“ zeichnet das schönste Bild zu dieser dösenden, nach vorne gehenden Epiphanie. Einer, die ganz nebenbei eben auch unterstreicht, dass die alte Floskel eben doch stimmen kann: Manchmal ist eben wirklich der Weg das Ziel.

a-tribe-called-quest-we-got-it-from-here-thank-you-4-your-service25. A Tribe Called Quest – We got it from Here… Thank You 4 Your Service

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Der letzte Wunsch des im März 2016 verstorbenen Phife Dawg geht mit We got it from Here… Thank You 4 Your Service eindrucksvoll in Erfüllung: Seine Kumpel von A Tribe Called Quest liefern ein abschließendes Comeback und finales Album der Hip Hop Institutionen aus New York. Ein Doppelalbum, das die Fackel demonstrativ weiterreicht („Talk to Joey, Earl, Kendrick, and Cole, gatekeepers of flow/ They are extensions of instinctual soul/ It’s the highest in commodity grade/And you could get it today“ geben Q-Tip, Jarobi White und Phife Dawg in Abwesenheit des an dem Luke Cage-Desaster beschäftigen Ali Shaheed Muhammad der jungen Garde spät aber doch ihren Segen), allerdings mehr noch eine Kombo zeigt, die auch 16 Jahre nach dem Debüt noch voll im Saft stünde – und die all die aufgefahrene Feature-Power ( André 3000, Kendrick Lamar, Jack White, Elton John, Kanye West, Anderson Paak, Talib Kweli und Busta Rhymes geben sich die Klinke in die hand) genau genommen nicht benötigt hätte, sich deren Vorzüge aber exzellent einverleibt. Am Ende steht ein energiegeladenes Schlusskapitel, das gerade auch deswegen so erfrischend alle Trends missachtet und kampfeslustig in die Zukunft blickt, weil es wie ein aus der Zeit gefallenes, alterslos-anachronistischen Juwel einer Revolutionsphase wirkt und das Kapitel A Tribe Called Quest würdig schließt. Indem We got it from Here… Thank You 4 Your Service den Legendenstatus der Band im neuen Jahrtausend zementiert, zu spät geborenen die Gnade erweist, als Ankerpunkt im aktuellen Zeitgeist zu dienen, und nachkommenden Riegen als unverwüstliche Inspiration dienen sollte.

khemmis-hunted24. Khemmis – Hunted

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Hunted ist der Moment, in dem aus einer großartigen Band eine herausragende wird. Mit seinem Zweitwerk findet sich das so sympathische Quartett aus Denver nicht nur vor Kollegen wie Conan oder Crypt Sermon im Windschatten der Szene-Könige Pallbearer wieder, sondern auch an der Pole Position des Decibel Magazins. Und all diese ins hymnisch gniddelnde Gitarrensoli, episch angelegten Gesangslinien, die majestätischen Soundwände, drückenden Abfahrten und der mit dreckigen Rock’n’Roll-Flair drückenden Rhythmusmotor bekräftigt eben zu jedem Zeitpunkt: Absolut nicht zu unrecht!
Khemmis mögen an sich traditionellen Doom nach allen Regeln des Spiels zelebrieren, bereiten ihn aber mit einer charismatischen Frische auf, die das unmittelbare Umschaltspiel von bestialisch grollender Heavyness zu heroisch aufmachender Grandezza ohne Verzögerung beherrscht, und keinen Unterschied zu Stoner und schwärzeren Metal-Bereichen zieht. Auf absehbare Zeit wird man sich jedenfalls keine Sorgen um das Erbe von Black Sabbath und Co. machen wird müssen. Denn das beste an Hunted ist immer noch, dass sich die 44 Minuten hier zwar wie ein Quantensprung zum bereits so grandiosen Debüt Absolution aus dem Vorjahr anfühlen – es aber dennoch so wirkt, als würden Khemmis weiterhin erst an ihrem immensen Potential kratzen. Um sich von der Rolle des vielversprechenden Hoffnungsträgers nahtlos in nähere Umgebung der Speerspitze zu katapultieren, reicht dies jedoch nahezu mühelos. Dieser Band gehört die Zukunft!

Every Time I Die - Low Teens23. Every Time I Die – Low Teens

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Stillstand? Von wegen! Every Time I Die haben ihren Sound eben gefunden und schlichtweg – schon wieder! – eines der beste Alben ihrer Karriere aufgenommen. Wo der oberste Treppchenplatz bei einer makellosen Discografie alleine schon deswegen schwer zu vergeben ist, weil Every Time I Die ihre patentierte Trademark-Derwisch-Bollereu stets um neue Nuancen zwischen den Zeilen erweitern und kleine Eigenheiten feinjustieren, scheint Low Teens aber tatsächlich noch mehr Optimierungsarbeit geleistet zu haben als das bärenstarke From Parts Unknown. Die Hits sind wieder im das Quäntchen knackiger, die Melodien zwingender, die Präsentation durchschlagender. Vor allem aber sind da eben diese Texte, die Low Tenns endgültig als bisher wohl reifste Meisterleistung der Band adeln. Entstanden am Scheideweg zwischen Leben und Tod sowie Verlust und Familie – und natürlich einer behindernden Wrestling-Verletzung – schürft Keith Buckley tiefer und tiefer, bis dieser chaotische Hassbatzen sich mit fast philosophischer Gedankenschere entfaltet. Auch auf die Gefahr hin spätestens im üblichen Zwei-jährigen-Veröffentlichungs-Rhythmus durch die Konsistenz der unsteten Gruppe Lügen gestraft zu werden. Ja, verdammt – Low Teens ist wohl doch das bisher beste Album der Band, und eine Sternstunde des Metalcore sowieso.

The Hotelier - Goodness22. The Hotelier – Goodness

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Die vergangenen Jahre waren durch junge Hoffnungsträger wie The World is a Beautiful Place & I Am No Longer Afraid to Die, Sorority Noise, Into It. Over It und Co. gut zu dem, was sich im allgemeinen unter dem Emo-Dach versammeln lässt. Und auch 2016 ließ sich mit relativen Geheimtipps (ala For Everest) und mittlerweile geradezu routiniert abliefernden Jungspunden (ala Modern Baseball) diesbezüglich kaum lumpen. Und dann tanzen ausgerechnet The Hotelier (mit Home, Like Noplace Is There immerhin verantwortlich für eine Platte, die vielerorts längst als potentiellen Neo-Klassiker des Genres gehandelt wird) aus der Reihe. Sie justieren ihren Sound deutlich runder, zähmen die Kompositionen, montieren nahezu alles dringliche Geschrei ab und gönnen sich gar ein beinahe prätentiöses Konzept samt Interludes. Kurzum: Godness transportiert seine Leidenschaft vom Emo zum Indierock. Ein Schritt, der alte Fanschichten durchaus vor den Kopf stoßen und dafür umso mehr neue erschließen konnte, der dem des Tourens müden Ben Gauthier wohl auch eventuell zu weit ging. Was der ausgestiegene Gitarristen damit freilich nicht mehr korrigieren kann: Teil des in Summe bisher besten – weil komplettesten, reifsten, zugänglichsten und dennoch nachhaltigsten – Albums von The Hotelier zu sein.

sturgill-simpson-a-sailors-guide-to-earth21. Sturgill Simpson – A Sailor’s Guide to Earth

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Die Distanz, die Sturgill Simpson seit seinem Debüt zurückgelegt hat, ist eine mindestens ebenso weite wie beeindruckende – vor allem stilistisch. Von dem am klassischen, aber modernen Country, der den 38 spätestens mit seinem Zweitwerk Metamodern Sounds in Country Music auch kommerziell durch die Decke gehen ließ, sind auf dem mutigen A Sailor’s Guide to the Earth jedenfalls nur noch Grundzüge in der DNA vorhanden. Stattdessen fährt der 38 jährige 2016 gleich im erst so unsagbar behutsam streichelnden, dann ausgelassen losmarchierenden Opener Welcome to Earth (Pollywog) ganze Bläserwände auf und spielt später immer wieder waschechten Bluesrock, covert Nirvana’s In Bloom als zum Sterben schöne Gänsehautnummer (wo Simpson Balladen immer schon makellos lagen, zaubert er nun aber auch nach vorne gehende Rocker wie Call to Arms mit mitreißender Präzission), und klingt dabei nicht selten wie ein gnödelnde Version von einem bodenständigen Elton John, der sich endlich wieder ein waschecht am Geniestreich vorbeischrammendes Gesamtkunstwerk abgerungen hat. In Anbetracht der Tatsache, wie konsequent und mutig Simpson diesen Schritt zum seiner Familie Tribut zollenden Juwel vollzieht, darf man da von purer künstlerischer Integrität sprechen, die sich keinen Deut um verpflichtende Erwartungshaltungen schert. Den Lohn fährt Simpson auf zahlreichen Ebenen ein: Kriterlob aus allen Ecken, tolle Verkaufszahlen und zwei Grammy-Nominierung drücken die verbindenden Stärken dieses Genre-Brechers effektiv aus. A Sailor’s Guide to the Earth hat jeden Funken dieser Gegenliebe verdient, weil hart erarbeitet.

Honorable Mentions | MV(E)P  | 50 – 41 | 40 – 31 | 30 – 21 | 20 – 11 | 10 – 01 |

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