Weeping Wounds That Never Heal: Placebo
Über achteinhalb Jahre werden bereits ins Land gezogen sein, wenn Placebo – personell mittlerweile auf die seit jeher als Konstante agierende Achse aus Brian Molko und Stefan Olsdal destilliert – Ende März 2022 mit ihrem achten Studioalbum Never Let Me Go den Nachfolger zu Loud Like Love von 2013 veröffentlichen.
In der mit Abstand längsten Pause zwischen zwei Veröffentlichungen war es zwar nie komplett ruhig um das Duo aus London – da waren etwa eine EP, ein neues Best of und natürlich der Unplugged-Mitschnitt – doch seit das Gespann sich 2019 auf die Aufnahmen des Comebackalbum konzentrierte, und diese sich durch die Pandemie erst enervierend verlängerten, bevor dann auch noch der Releasetermin von Never Let Me Go viele Monate lang hinausgezögert wurde, konnte die Wartezeit auf neues Placebo-Material schon merklich ermüden.
Andererseits Gelegenheit genug, um die bisherige Diskografie der Band von Molko, Olsdal und ihren wechselnden Kompagnons am Schlagzeug wieder einmal ausführlicher zu genießen – und sie dabei in eine subjektive Rangliste zu pressen.
07. Battle for the Sun
Veröffentlichungsjahr: 2009
Produzent: David Bottrill
Spielzeit: 52 Minuten
Den Platz des verabschiedeten Drummers Steve Hewitt übernimmt hier erstmals der junge tätowierte Posterboy Steve Forrest, bevor er sich 2015 wieder auf eine eigene Karriere konzentrieren wollte. Zusammen geht die neuformierte Band Placebo nach Kanada, um mit Wunschproduzent David Bottril (der Molko noch immer ins Schwärmen bringt) an Album Nummer 6 zu arbeiten – und sich dabei in der neuen Konstellation auch selbst neu zu finden.
Beides führt nur zu unbefriedigenden Ergebnissen.
Zugegeben: Die Autopilot-Singles For What It’s Worth, The Never-Ending Why und Ashtray Heart sind nicht völlig ohne Potenz – aber eben auch nur ein blasser Schatten der Hooks und Melodien, zu denen Placebo an sich fähig sind. Essentiell ist in einem gar nicht per se schlechten, aber schlichtweg bocklangweiligen konzeptionellen Allerlei insofern auch nur der Titelsong, der erklärt, was Molko damit meint, wenn er von Bombast, Streichern, Bläsern, Cinemascope und Amerika spricht. Wo genau in diesem Amalgam die Einflüsse von PJ Harvey und My Bloody Valentine spürbar werden, bleibt dagegen ein Mysterium. Weit abgeschlagen vom Feld markiert Battle for the Sun jedenfalls den markanten Ausfall der Diskografie.
06. Loud Like Love
Veröffentlichungsjahr: 2013
Produzent: Adam Noble
Spielzeit: 47 Minuten
Gerade mit ein bisschen Abstand ist Loud Like Love weitaus überzeugender, als es beim (sicher auch unter dem Schock der grausamen Lyrics der Single Too Many Friends stehenden) Erstkontakt schien.
Das liegt weniger an der milden Einsicht, dass Prime-Placebo eben einfach lange her sind, als zum einen vielmehr an einigen wenigen wirklich starken Einzelsongs – Hold on to Me, Begin the End und Bosco haben sich als liebgewonnene, wertvolle Erweiterungen des hauseigenen Repertoires erwiesen – und andererseits auch einem generell sehr soliden Niveau der Platte.
Aus einem potentiellen Solo-Release des (für seine Vaterrolle bereits immer mehr Zeit einteilenden) Sängers haben Molko, Olsdal und Forrest unter Mithilfe des (mittlerweile) von Biffy Clyro, Guillemots oder Liam Gallagher geschätzten Adam Noble ohne auf falsche Nostalgie zu setzen immerhin ein Werk aufgenommen, das seine Rolle zwischen Veteranenstück und Routinearbeit mit einer ungezwungenen Zuverlässigkeit erledigt, Kompetenz vor den Exzess stellt, und sich auf ein gesundes Songwritig verlassen kann, ohne es sich zu gemütlich zu machen.
05. Black Market Music
Veröffentlichungsjahr: 2000
Produzent: Paul Corkett
Spielzeit: 56 Minuten
Die Band ist für ihr drittes Studioalbum ja gewillt, um sich nicht einer komfortablen Sackgasse zu verrennen. Man sampelt Pavement und will auf den „Macho-Raprock“ rund um Limp Bizkit reagieren (leider in Form des blamablen Totalausfalls Spite & Malice mit Justin Warfield auf der Gästeliste), alleine die neun Monate Studiozeit sind bis Never Let Me Go unübertroffen.
Dass das Trio diesen langen Aufenthalt jedoch vor allem für Parties nutzt („We felt like cowboys of rock! We were also really heavily medicated and beginning to get quite deep into drugs. That’s probably why it took nine months to make an album. The drugs also contributed to a certain amount of arrogance. At least that’s what I remember from the time.„), schlägt sich im Ergebnis nieder: Ein auslaugend gleichförmiges, monoton dunkles Album hat zu viele Standards und Füller zu bieten, als dass das stimmungstechnisch kaum ausbalancierte Black Market Music begeistern könnte.
Freilich mit Ausnahme einiger absoluter Highlights – neben den kraftvoll liefernden Singles Taste in Men, Special K, Black-Eyed und Slave to the Wage ist das vor allem das famose Passive Aggressive – die allesamt dem Anspruch stellen als veritable Placebo-Klassiker durchzugehen.
04. Meds
Veröffentlichungsjahr: 2006
Produzent: Dimitri Tikovoï
Spielzeit: 48 Minuten
Twenty Years liegt im unmittelbaren Rückspiegel, der Bruch mit Drummer Steve Hewitt und damit der Abschluss der Heydays steht jedoch ebenso erst noch so unmittelbar bevor, wie der Abschied von den Tagen des Drogenkonsums. Derweil ist Meds aber „a record borne out of a lot of psychological trauma“, gezeugt im Rausch einer exzessiven Band, die sich noch weiter in die Elektronik bewegen will, ausgerechnet vom französischen Produzent und DJ Dimitri Tikovoï jedoch in einen rockigeren Kontext gefügt wird – und das Ergebnis dieser kreativen Reibung sollte ihm recht geben.
Zwar steht alles im Schatten der herausragenden Klammer aus dem dringlicher kaum möglichen eröffnenden Titelsong mit Alison Mosshart und der euphorisierenden Abschiedshymne Song to Say Goodbye, doch zelebrieren Placebo zwischen diesen Polen das Wechselspiel mit dynamischem Songs in Form zahlreicher Fan-Pleaser – auch wenn dabei ein paar Passagen im zweiten Drittel des Verlaufs (wie ausgerechnet das latent unterwältigende Michael Stipe-Gastspiel Broken Promise) kein begeisterndes Feuerwerk zünden, aber dezitiert befriedigen.
03. Placebo
Veröffentlichungsjahr: 1996
Produzent: Brad Wood
Spielzeit: 60 Minuten
Das einzige Album mit dem bald geschassten Notnagel Robert Schultzenberg an den Drums entsteht zwei Jahre, nachdem sich Molko und Olsdal an einer U-Bahn-Station kennen gelernt hatten (und nicht mehr damit beschäftigt waren, unter dem Banner Ashtray Heart auf Kinder-Instrumenten zu musizieren) unter der Ägide von Indie-Experte Brad Wood innerhalb von zwei Monaten Anfang 1996 in Dublin und London – roh, direkt und vergleichsweise drahtig.
Dass Coverboy David Fox die Band eineinhalb Jahrzehnte später verklagen würde, ist zu diesem Zeitpunkt nicht abzusehen – dass der „punk pop for postponed suicides“ des selbstbetitelten Debüts derart erfolgreich durch die Decke gehen müsste, aber eigentlich schon.
Befeuert durch die mediale Reibung, den das androgyne Auftreten der Band erzeugt, sind es schließlich entwaffnende Songs und bestechende Hits, mit denen das Trio vorstellig wird. Teenage Angst, 36 Degrees, Hang on to Your IQ, Nancy Boy oder Bruise Pristine treffen um pansexuellen Hedonismus, Drogen und Depressionen kreisend einen Nerv. Dass das Material im Ganzen abseits dieser ikonischen Highlights trotzdem auch nochein etwas unausgegorenes, zumindest nicht restlos rundes und mancherorts zu dünn inszeniertes Debütalbum ergibt – geschenkt. Hierin wurzelt der Nimbus der lange Zeit geltenden Unfehlbarkeit von Placebo.
02. Sleeping With Ghosts
Veröffentlichungsjahr: 2003
Produzent: Jim Abbiss
Spielzeit: 47 Minuten
Sleeping With Ghosts wird das Bild, das man bis heute von Placebo hat, nachhaltig verändern. Immerhin beginnt hier die Obsession von Olsdal und Molko für alte Synthies, was sich in einer vollkommen neuen Prägung des Bandsounds niederschlagen sollte: Ein ebenbürtiges Maß an elektronischen Komponenten hält Einzug in den Kosmos der glamourösen Kombo und verlagert das kompositorische Gewicht rund um die alles richtig machende, die Fanbasis unmittelbar abholende Sturm-und-Drang Single The Bitter End ebenso zwingend, wie die mutierende Ästhetik, die nun auch Trancen wie das verrucht abseitige Something Rotten zulässt, waghalsig ist – und dennoch pure Schönheiten wie das weit hinaus träumen wollende Special Needs ermöglicht.
Molko selbst spricht hierbei vom idealsten Verhältnis von „vintage synthesizers and old school analog recording techniques“, das Placebo für eine Metamorphose mit Charakterdefinitionswirkung gefunden haben. Was er damit meint, ist eigentlich bereits klar, nachdem das metallisch eröffnenden Instrumental Bulletproof Cupid wie selbstverständlich in die club-unterwandert groovende Trance English Summer Rain gleitet und danach so konsistent und homogen This Picture als Live-Kracher vorlegt. Diese ansatzlos verschwimmende Symbiose aus sphärischer Körperlosigkeit und realer Physis wird eigentlich nur im Titel und Artwork noch treffender eingefangen. Ein Paradigmenwechsel nahe der Pole Position-Würde – wäre nur die eine oder andere weniger überragende Nummer (namentlich: Plasticine und Second Sight) ausgespart worden.
01. Without You I’m Nothing
Veröffentlichungsjahr: 1998
Produzent: Steve Osborne
Spielzeit: 66 Minuten
Dass Placebo mit ihrem Debüt aus dem Stand heraus derart durch die Decke gehen, hatte freilich auch Schattenseiten. Nachzuhören etwa anhand der konservierten und hier wiederverwerten Todesdrohungen an den plötzlich prominenten Brian Molko, die den Hidden Track Evil Dildo einleiten und dabei auch Verbindungen zu Aphex Twin knüpfen.
Am anderen Ende der Platte steht dagegen der Ausdruck einer impulsiven Entscheidung: das gekippte Pure Morning entsteht erst nach den Albumsessions als B-Seite, wird von der Band jedoch kurzerhand als Album-Opener eingefügt (was auch als Sinnbild für einige Schwächen im Sequencing verstanden werden kann) und fungiert sogar als erste von fünf Singles aus dem Portfolio von Without You I’m Nothing.
Dazwischen liegt Material, dass die nunmehr mit ihrem Wunsch-Drummer Steve Hewitt zusammengefunden habende Gruppe 1998 über die Dauer von drei Monaten in den Real World Studios in Wiltshire
Dass man sich im Nachhinein unzufrieden mit der Produktion des dance- wie auch rock-affinen Steve Osborne zeigte (Molko kritisierte die generelle Chemie zwischen der nicht miteinander kommunizierenden Parteien, eine gefühlte Überproduktion und „zu viele Slow Songs für ein zweites Album“) wirkt da regelrecht absurd: Besser (weil sicher ausnahmsweise auch ausnahmslos mit essentiellen Songs aufwartend, kein Gefälle in der individuellen Qualität zeigend) als hier war die schnörkellos ausgeleuchtete Band auf Albumlänge nie mehr – verstand es aber eben für viele kommende Jahre, diese Hürde als Möglichkeit und Katalysator zu verstehen.
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