Viagra Boys – Welfare Jazz

von am 13. Januar 2021 in Album

Viagra Boys – Welfare Jazz

Viagra Boys begreifen ihren zwischen Stooges und LCD Soundsystem, Idles und Radio 4 randalierenden Post Punk auf Welfare Jazz endlich endgültig über die Tanzfläche hinaus. Diese Entwicklung rechtfertigt auch ein frustrierend unausgegorenes Gesamtwerk.

Es gibt einige Passagen auf Welfare Jazz, die im Kontext des zerfahrenen Zweitwerks der Schwede einfach nicht schlüssig funktionieren wollen und die These nahelegen, dass das aufgefahrene Material strenger selektiert und in EP-Form(en) gegossen einfach besser zur Geltung gekommen wäre: Die einzelnen Interludes der Platte – das den Fluss gleich Eingangs unnötig ausbremsende Spoken Word-Stück Cold Play, die Hundepoesie vom Straßeneck This Old Dog, das redundante Best in Show II – sind der Atmosphäre vielleicht zuträglich, tun der Stringenz aber einfach keinen Gefallen und wirken wie gut gemeinte leere Meter, während 6 Shooter, das Instrumental-Herzstück des Albums, als Standard aus dem Baukasten wie ein weniger zwingender, außerdem viel zu langer Aufguss-Appendix des tollen Openers Ain’t Nice wirkt, in dem sich die Viagra Boys herrlich polternd mit abgedämpft grummelndem Bass und fiependen Minimal-Synthie-Effekten zum fiebrig werdendem Saxofon im dreckigen Groove absolut effektiv und unbedingt catchy zurückmelden. Wahrlich ein klassischer Fandienst vor dem genüsslichen Fuck You.

Nach diesem präzisen Einstieg unterstreicht Welfare Jazz mit grundlegend gedrosselterem Tempo zwar schließlich die Erkenntnis von Street Worms, dass nur wenige Bands die frühen 2000er auf der Grundlage zackig aus der Artpunk-Gosse auf die Discopunk-Dancefloor treibender Achtel-Rhythmen derart dringlich und gehaltvoll aufwärmen, wie Viagra Boys dies weiterhin tun, fährt auch über weite Strecken aber mehr noch die Früchte ein, die die besten Songs des DebütsJust Like You und Worms – bzw. jene der EP Common Sense – mit Sentinel Island und Blue, aber auch dem Titelsongs – zu sähen begannen: Das Quintett hat gelernt, sein Songwriting zwischen den sardonischen, humoristischen, hedonistischen und kakophonischen Anhaltspunkten auf eine breitere, melodischere Ebene zu bringen und vielseitigerer aufzutreten.
Eigentlich erfüllen nur Girls & Boys (als witziger Trademark-Hit mit seinem diffusen Schleier über der Call and Response-Eingängigkeit) und das schmissige Secret Canine Agent (als verspulter kleiner Antreiber) so punktgenau sitzend wie konventionell die konventionellen Erwartungshaltungen. Was sehr gut so ist.

Das bluesige Toad geht dafür im nervösen Zug ideal nach vorne, schrammt entwicklungstesistent psychedelisch und krautig den unterschwellig aufbegehrenden, staubig brodelnden Soul und Into the Sun schlapft mit durchhängenden Kontrabass-Seiten zum abgedämpften Beat aus der sedativen Schule von Tom Waits. Creatures addiert zum entschleunigten Signature Sound der Boys eine funkelnde 80er Patina des Darkwave und flirtet mit dem Jazz, I Feel Alive marschiert fast cartoonesk stoisch und mit breiter Brust statuiert zum entspannten Stampfen, hebt nach den Flöten- und Klavier-Arrangements einen beschwörenden Refrain auf den Tresen.
Gar aus diesem wilden Rahmen fallend gehen dann am Ende sowieso endgültig die Pferde durch, wenn das melancholisch entrückte To the Country alleine textlich eine absurde Sehnsucht darstellt, darüber hinaus als Symbiose aus Protomartyr und Will Oldman mit ominöser Southern-Schlagseite strukturell auch ohne Höhepunkt aufzeigt, bevor der Closer In Spite of Ourselves als sehr eigenwillige, somnambule Country-Disco-Verbeugung vor John Prine und Iris DeMent mit der derzeit allgegenwärtigen Amy Taylor von Amyl and The Sniffers ohnedies seine eigenen Wertmaßstäbe determiniert.
Das alles wäre mit einem albumübergreifenden kohärenten Spannungsbogen oer Klimax freilich noch mehr wert gewesen, schmälert hinter der homogene Ausstrahlung aber nicht den Wert dieses Evolutionsschrittes: Kaum noch etwas klingt hier nach einer zuspätgekommenen Epigonen-Band unter vielen; der finale Schritt zur charakteristischen Eigenwilligkeit ist spätestens nun (wenn auch im Gesamten zu inkonsequent und unausgegoren) eingeleitet.

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