Tool – Fear Inoculum

von am 4. September 2019 in Album, Heavy Rotation

Tool – Fear Inoculum

Auf halben Weg zum Chinese Democracy-des-Progmetal-Treppenwitz haben Tool 4872 Tage nach 10,000 Days tatsächlich doch noch ihr fünftes Studioalbum veröffentlicht. Nach außen hin ist Fear Inoculum dabei vielleicht ein wertkonservativer Fanpleaser auf Autopilot, dahinter jedoch ein durchaus evolutionärer Brocken in latenter Verweigerungshaltung.

Irgendwo absolut passend, dass Danny Carey, Adam Jones, Maynard James Keenan und Justin Chancellor nach 13 schier endlos scheinenden Jahren ein Comeback aufgenommen haben, das dezidiert nichts überstürzt und sich auch innerhalb seines Rahmens alle Zeit (und Raum) der Welt nimmt, um einen irritierenden Spagat zwischen absoluter Vertrautheit und einer geradezu orientierungslos machenden Tiefe zu erzeugen.
Auf den ersten Blick ist Fear Inoculum nämlich „nur“ eine derart typische Tool-spielen-Tool-Songs-Platte geworden, dass es zwar nicht an die Persiflage, zumindest allerdings die zutiefst puristische Stagnation zu grenzen scheint. Alles ist erwartbar komplex und technisch virtuos, arbeitet mit altbekannten Motiven, den obligatorischen Palm Muting und den komplizierten Rhythmen, den konzeptionellen Überbauten. Mehr noch: Fear Inoculum knüpft ästhetisch praktisch sogar unmittelbar an den Stil von Lateralus und 10,000 Days an, stimmungstechnisch wirken viele Szenen sogar wie direkte Selbstreferenzen und Déjà-vu an Schism, Jambi, Descending alleine bedient sich nach Baukastenprinzip an Szenen aus Wings for Marie, Reflection, Pushit, Third Eye und anderen Erinnerungen.
Man fühlt sich deswegen unmittelbar zuhause, frisst der Band aus den Händen und registriert eher nebenbei, dass sich dabei irritierenderweise jedoch eine absolut befriedigende Wirkung anstatt überwältigender Euphorie einstellt. Fear Inoculum ist schließlich ein Album, das sich überraschend zugänglich gebärdet, nichtsdestotrotz nur mit viel Zuwendung wirklich ergründen lassen will, dabei musikalisch eben nicht das spektakuläre Ereignis erzwingt, zu dem es auf Metaebene beinahe mystisch verklärt wird.

Taucht man weiter ein, ist Fear Inoculum jedoch eine Tool-spielen-Tool-Songs-auf-dem-nächsten-Level-Platte geworden, wenn man so will. Immerhin macht das Album ästhetisch und stilistisch zwar tatsächlich ansatzlos dort weiter, wo die Kalifornier im vergangenen Jahrzehnt aufgehört hatten (was dann übrigens grandios anachronistisch, niemals angestaubt anmutet), doch ist das Quartett in der Zwischenzeit keineswegs stehen geblieben, sondern hat seine eigene Klangwelt mit einem beachtlichen Stoizismus in die nächste Evolutionsstufe gedeihen lassen, badet dort über eine andere Form des Songwritings nun auch ein bisschen selbstgefällig in einem uferlosen und konturfreien Kosmos, der ambivalentes Potential offenbart.
Die vier Edeltechniker haben die Spannungsbögen und Strukturen der Kompositionen mittlerweile so weit wie möglich in die Breite gezogen und ausgedehnt, lassen alles natürlich fließen, brauchen keine knackigen Wendungen oder zwingenden Kontraste, Carey spricht nicht umsonst von „einer gigantischen Nummer“. Mit Ausnahme des leidlich notwendigen, als Song getarnten Drumsolos Chocolate Chip Trip (im Grunde eine veritable Nabelschau der Schlagzeug-Göttlichkeit) dauert keines der sieben monolithischen Mammutstücke unter 10 Minuten, soll keines ein knackiger Hit sein, helfen keine markigen Refrains beim Kartographieren.

Keenan beschreibt die Rückkehrer als „older and wiser“ und „embracing where we are right now, acknowledging where we’ve come from and some of the things we’ve gone through“ als inhaltliches Narrativ. Tool ziehen dafür ganz allgemein nur selten das Tempo an, agieren kontemplativ, folgen auf Fear Inoculum weitestgehend gemächlich, entschleunigt, ruhig und fast meditativ dem großen Ganzen, dessen einzelne Mosaikstücke sich elegisch und langsam entwickeln; architektonisch homogenen Suiten gleich, die unendlich geduldig voranschreiten, vielleicht sogar weniger impulsiv und überlegter in sich gehen als alles, was die Band bisher geschaffen hat.
Wo die Urgewalt von Tool dadurch subversiver ausgelegt wird, existiert kaum noch offenkundige Wut oder Unberechenbarkeit. Fear Inoculum entlädt seine Spannungen selten und Maynard James Keenan klingt (in diesem Kontext: leider) ähnlich aggressionsbefreit und sanft wie zuletzt bei A Perfect Circle, fügt sich weich und im Reinen mit sich selbst treibend in die Kompositionen ein, ohne die meisterhaft nuancierten Stellschrauben jemals wirklich spannender oder zwingender anzuziehen. Als wären die einleitenden Zeilen des Openers („Immunity long overdue/ Contagion I exhale you“) ein Versprechen, scheint es phasenweise, als sollte die Gnade, dass Fear Inoculum überhaupt erschienen ist, die einzig rundum restlose Befriedigung darstellen, die Winzer Keenan den darbenden Fanmassen zugesteht, bevor er rechtzeitig zur Lesezeit wieder zu seinen Rieden zurückziehen kann. Selten bis nie nutzt er jedenfalls die wenigen Steilvorlagen seiner Band, um seine Stimmbänder zwingender von der Leine zu lassen, jene Phasen der Songs auch einmal gemeinsam zu attackieren, in denen die Handbremse gelöst wird. Symptomatisch dafür verlässt er den Höhepunkt des wundervoll friedfertigen, fantastischen Herzstückes Culling Voices, in dessen Mitte Keenan mit einer sanftmütigen Gesangslinie triumphierend schwebt, geradezu zurückhaltend flüsternd.

Laut oder rasant wird insofern am deutlichsten 7empest als die final zugespitzte Katharsis, wenn das Kollektiv am meisten Biss zeigt und über ein Abrissbirnen-Riff im Alternative Rock beginnend aus der Gleichförmigkeit ausbricht, ein sich langsam abkühlendes Ventil findet, auf das die gesamte Platte so geschlossen hingezogen hat.
Dass das instrumentale Spektrum auch dabei erstaunlich aufgeräumt daherkommt, sich mittlerweile kaum noch von Effekten oder Samples ablenken lässt, sondern vordergründig auf das Gespann aus Schlagzeug, Gitarre und Bass konzentriert ist, fällt wie hier immer dann besonders deutlich auf, wenn Tool ihren Signature Sound nicht mit den 2019 prominent texturierenden Synthies modifiziert haben. Alleine die digital nachgereichten, elektronisch mäandernden Interludes hätte es als Ausdruck dieser neuen Klangfacette nicht unbedingt gebraucht. Zwar fügen sie sich stimmungstechnisch kohärent im Verlauf ein, tatsächlich aber sind sie nur bedingt essentiell (jedoch keineswegs so störend, wie vielerorts behauptet wird).
Trotz seiner durch die Intermezzi erst richtig voluminösen Spielzeit von bis zu 77 Minuten mutiert Fear Inoculum allerdings zu einer außerordentlich kurzweiligen Standortbestimmung, dessen Sogwirkung sich rationalen Maßstäbe zu entziehen scheint: Während Fear Inoculum weder so beeindruckend wie Ænima oder Lateralus auftritt, noch deren emotionale Intensität und Vielseitigkeit erreicht, geht die durchaus formelhafte Platte hinter einem ähnlichen anfänglichen Malen-nach-Zahlen-Eindruck durch das Synthieschimmern und dem endgültigen Aufbrechen konventioneller Schemen genau genommen weniger auf Nummer Sicher als 10,000 Days – man will immer weiter in die Welten dieses faszinierend abhängig machenden Brockens vordringen, der bei jedem neuen Durchgang weitere Details und süchtig machende Lieblingsszenen offenbart, schlichtweg kein (Über)Sättigungsgefühl vermittelt oder Langeweile transportiert, dessen Erarbeitung keiner Mühe gleichkommt.

Obwohl gerade der Einstieg durchaus kräftezehrend funktioniert sind die Reize unwiderstehlich. Der eröffnende Titelsong erweist sich als Vorabsingle etwa als adäquates Gateway, mit seinen abgedämpft schiebenden Gitarren, der orientalischen Percussion, den immer dichter werdendenden Dringlichkeiten, die jeden Ausbruch verweigernd über einen rezitierenden Part neue Fahrt aufnehmen, um sich sofort wieder zurückzuziehen und sich seiner „Exhale, Expel“-Hook anzunähern. Das hypnotisiert mit mathematischer Präzision wiegend auf Betriebstemperatur, auf der sich Pneuma ein bisschen zu träge schleppt, die Fäden in seinem letzten Drittel allerdings doch noch knackiger verbindet, ohne den orthodoxen Climax zu Gunsten einer frustrierend-domestizierten Selbstbeherrschung zu forcieren. Schwierig.
Spätestens danach aber läuft die Band zu Hochformen auf. Invincible lehnt sich mit seinen nautischen Gitarren an Isis und sinniert möglicherweise über die eigene Ausgangslage („Beating chest and drums/ Beating tired bones again/ Age-old battle, mine/ Weapon out and belly in/ …/ Warrior struggling to remain relevant“), schickt ein Solo über die herrlich schwerfällig kletternde Rhythmussektion in die Dystopie von Blade Runner an der Schnittstelle zu Cult of Luna. Auch Descending, der zweite vorab gespielte Leviathan, gehört als delirianter Fiebertraum, in dem Jones die Ahnung an einen Exzess aufkommen lassen darf, trotz aller Kopie-Verweise zu den Highlights, die Fear Inuclum zu einem absolut würdigen Ereignis machen.

Wäre dies also das finale Lebenszeichen von Tool, stritte es sich zwar nicht mit Ænima und vor allem Lateralus um den Titel des hauseigenen Meisterwerkes, es käme jedoch einen definitiven Statement gleich und würde die Karriere der Prog-Instanz ähnlich erschlagend abrunden, wie die aus allen Gimmick-Rohren Richtung Verpackungs-Grammy feuernde Special Edition der physischen Version dem Omega der Generation CD als pures Ereignis entspricht.
Weniger spekulative Zukunftsprognosen: Fear Inoculum wird wie jeder seiner Vorgänger über die kommenden Jahre noch wachsen (und könnte sich damit eventuell zumindest den halben Punkt, der an dieser Stelle zur nächsthöheren Wertung abgeht noch verdienen), wo die Wuchtbrumme aktuell eher als fulminante Rechtfertigung der langen, langen Wartezeit auftritt, anstatt als enthusiastische Begeisterung zu eskalieren. Tool polieren als alter Bekannter über die Hintertür kommend somit ihr Denkmal, anstatt es in neue Sphären auszubauen, untermauern ihren Status als Ausnahmeband mit einem Werk, das nicht nur bis zu seinem etwaigen Nachfolger beschäftigen wird, sondern diesem hiernach auch mit ähnlicher Vorfreude entgegenblicken ließe, wie man es in der Wartezeit seit 2006 auf Fear Inoculum tat. Man kann und will mit dieser Platte verdammt gut leben, es entwickelt sich trotz einer immens hochkonzentrierten Dosis keine ToolReistenz.

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