The Icarus Line – All Things Under Heaven
‚Slave Vows‚ und dessen Appendix ‚Avowed Slavery‚ haben eine Entwicklungsstufe für Joe Cardamones Band gezündet, deren zumindest vorläufigen Höhepunkt nun ‚All Things Under Heaven‚ erreicht: für The Icarus Line werden in ihrer zügellosen, ekstatischen Unberechenbarkeit immer kompromiss- und rücksichtsloser.
Die bisher unmittelbarste Referenz zum unterschwellig so aggressiv und bedrohlichen brodelnden Rock von The Icarus Line wird nach ‚All Things Under Heaven‚ nicht mehr zwangsläufig in erster Linie der räudige, sich in Glasscherben wälzende Protopunk von Iggy Pop und seinen Stooges sein: Das achte Studioalbum von Cardamones streng hierarchisch betriebener Bandkonstellation provoziert als ein atmender Improvisationsmorast im strukturiertem Chaos mehr als alles andere Assoziationen zum führenden Avantgarde-Noise-Dompteur Michael Gira und seiner zur Urgewalt ausgewachsenen Institution Swans, deren Lehren The Icarus Line verinnerlicht haben. „Wenn ich zum Beispiel dachte, dass ein Song einen Schellenkranz braucht, dann habe ich einen neben das Schlagzeug gelegt. Aber ich habe dem Schlagzeuger nichts dazu gesagt. (…) Wenn man sich einen Song zuhause auf dem Papier überlegt, ist er schon tot, bevor man ihn aufgenommen hat. Rock’n’Roll muss muss leben, er muss atmen und sich bewegen“ erklärt Cardamone das intuitive Lebenselexier von ‚All Things Under Heaven‚: bedingungslose Spontanität.
Das aus dieser Einstellung gewachsene Werk ist folgerichtig ein audiodokumentierter Gewaltakt von einem Sessionrausch geworden: fiebrig, giftig, so gemein wie impulsiv; faszinierend, weil delirant und konsequent gleichermaßen; eine brutale, kratzbürstige, nervöse Foltermesse, die sich zu keinem Zeitpunkt dem Stillstand aussetzt. Quasi eine nochmalige Intensivierung der Vektoren von ‚Slave Vows‚: Das freigeistige Herangehen an Ideen manifestiert sich mittlerweile in noch zwingenderen, konzentrierteren Auswüchsen, fiebertraumartig lärmversäuchten Feedbackrozessionen regelrecht.
‚All Things Under Heaven‚ schlägt seine Wurzeln so keineswegs als fokussierte Songsammlung aus, sondern ist vielmehr ein geradezu wahnhaftes Verweben von Motiven, Gedanken und Ideen. Cardamone und seine tollwütige Gang halten destruktive, nachwirkende Momentaufnahmen fest, energisch und infektiös, ein irrwitziges Gebräu aus Hall, Groove, Rückkoppelungen, ausgemergelt scheppernden Bässen und dissonant-feindseligen Fuzzgitarren, die klingen, als wären sie vor Jahrzehnten verreckt und nun als faulige Untote wiedergekehrt.
Cardamone steht dabei auf seiner Kanzel, greint, keift, jault, spuckt seinen nihilistischen Weltenhass zwischen zusammengebissenen Zähnen, brüllt ihn heraus, bis die Effektgeräte schmelzen und sich die Rhythmik seiner ihm widerborstig-devot folgenden Band unbeirrbar der nächsten Abfahrt entgegenstemmt, der Lust an der Orgie nachgibt und die oft nur vage bleibenden Vorstellungen ihres Frontmannes interpretiert, „into a void„.
‚El Sereno‚ bremst die Umstände zu einem gefährlich lauernden, abgründig getragenen Psychedelik-Orgelblues aus, der in etwa dort weitermacht, wo Nick Cave nach ‚Dig, Lazarus, Dig!!!‚ die notgeile Altermilde erwischt hat und seine Grinderman sich in ihre Höhle verkriechen mussten. Dass ausgerechnet Warren Ellis im spartanisch ausgemergelten Stahlsaitenhusarenstück ‚Bedlam Blue‚ das selbe apokalyptische Fidel-Westernflair beschwört, in das auch Josh T Pearson seine sündigen Existenzen verenden lässt, macht also rundum Sinn.
‚Millenial Prayer‚ fällt als verzerrtes Stoßgebet an die multimedialen Schattenseiten der zeitgenössischen gläsernen Menschen in seiner fingerzeigenden Aktualitätsbemühung inhaltlich dezent aus dem restlichen, anachronistischen Malstrom, kippt jedoch irgendwann ohnedies in einen wirren Free Jazz-Trompetenalptraum. Aus dessen Klauen befreit sich das überlange ‚Incinerator Blue‚ erst nach knapp 5 Minuten, flaniert dann jedoch vergleichsweise lässig über die 12 Minuten-Marke dahin und läutet die (nur durch die etwas deplatzierte Positionierung des an sich tollen ‚Solar Plexus‚ getrübte,) schier überragende Schlussphase der Platte ein.
Dort geben sich The Icarus Line in ‚I Don’t Wanna Stay‚ erst sehnsüchtig flehend und innerlich zerrissen, nur um dem abschätzigen Spuk namens ‚All Things Under Heaven‚ mit ‚Sleep Now‚ ein beunruhigend-beruhigendes, drogeninduziertes Ambient-Abklingen zu verschaffen, den vorangegangen unerbittlichen Trip auf verstörende Weise versöhnlich, ja geradezu tröstend in eine jazzschwangere, atmosphärisch enorm dichte Dunkelheit zu führen, die ihre Faszination zu einem nicht geringen Teil auch aus der bisherigen Reputation der Epigonen-Meister The Icarus Line abschöpft.
In der Stille danach kämpft ‚All Things Under Heaven‚ zwar mit dem Problem, dass derart veranlagte Alben wohl grundsätzlich haben – auf Tonträger gebannt kann ein solcher konservierter Rausch immer nur bis zu einem gewissen Grat seines eigentlichen Potentials hypnotisieren, denn erst im Livegebrauch wird die übermannende, körperliche Größe aufgebaut. Ob man es sich jedoch zutraut, diesem malträtierenden Scheusal von einem musikalischen Moloch tatsächlich Auge in Auge gegenüberzutreten, ist freilich eine andere Sache, nimmt doch bereits ‚All Things Under Heaven‚ keine Gefangenen, sucht keine Verbündeten oder Freunde, sondern nur Fronten. Oder wie Joe Coleman im bibelfesten Titelsong von der Notwendigkeit von Pandemien predigend, mit manischen Psychosen im Genick: „The taker of human life is the cure/You are the problem!„. Soviel Abscheu muss man aushalten können.
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