Steven Wilson – Hand. Cannot. Erase.
Man muss sich nicht emotional in die dem vierten Soloalbum von Steve Wilson zugrunde liegende, sozialkritische Hintergrundgeschichte verlieren können, und in dem eklektischen Stilfeuerwerk drumherum festzustellen: schönere, unterhaltsamere Songs hat der Engländer seit Ewigkeiten nicht geschrieben!
‚Hand. Cannot. Erase.‚ beleuchtet auf musikalischer Ebene zwei Aspekte der Konzeptkunst des Engländers, die man immer wieder nur allzu leicht hinter der technisch so beeindruckenden Versiertheit seiner Projekte übersehen kann. Einerseits, wie enorm wandlungsfähig der 48 Jährige seine Progwelten aus stilistischer Sicht aufzufächern versteht. Und andererseits, dass Wilson trotz aller zur Schau gestellten Fingerfertigkeit ein absolutes Händchen für eingängiges, zielstrebiges Songwriting haben kann. Das im Vergleich zu seinem homogen einer ganzen Prog-Epoche Tribut zollenden Vorgänger ‚The Raven That Refused To Sing (And Other Stories)‚ immer noch anachronistisch daherkommende, aber deutlich moderner auftretend wirkende (weniger jazzige, kaum noch mit Flöten und Saxophonen bestückte) ‚Hand. Cannot. Erase.‚ gefällt sich so vor allem in der ersten Hälfte als stilistisch kaum festzunagelnder Wechselbalg, der die catchy Vielfältigkeit Wilsons auf erstaunlich eingängige Weise zelebriert.
Das Intro ‚First Regret‚ lässt in die cineastisch-optimistische Idylle elektronische Wolken ziehen, bevor ‚3 Years Older‚ ein überrschend federleichter Melancholiker von einem Popsong ist, eingebettet in ein elaboriertes Prog-Muskelspiel voller exaltierter Ausflüge samt Orgelsolo, 80er-Synthies und hirnfickender Saitenkunst: Ein ausfransender Ohrwurm über 10 Minuten, kein Widerspruch für Wilson. Den Beinahe-Titelsong ‚Hand Cannot Erase‚ inszeniert er dagegen wie einen Nachtrag zur Manic Street Preachers-Großtat ‚[amazon_link id=“B0020HRI8I“ target=“_blank“ ]Journal for Plague Lovers[/amazon_link]‘ – derart eingängig war Wilson schon lange nicht mehr, einen massentauglicheren Hit hat er vielleicht ohnedies noch nie auf eine seiner Platten geschummelt. Vielleicht noch beeindruckender: Der variable Fluss der Platte ergibt sich absolut homogen, ‚Hand. Cannot. Erase.‚ folgt seinem unberechenbaren Weg mit unaufdringlicher Selbstverständlichkeit.
Die maschinelle Drumarbeit übernimmt Wilson so für ‚Perfect Life‚ anstandslos, transferiert das Äußere jedoch nahtlos zu einer Trip Hop-Spoken Word-Erzählung von Katherine Jenkins, dessen kühle Sachlichkeit Wilson selbst mit einem behutsam verträumten Mantra kontakariert, indem er melancholisch in fiktiven Erinnerungen schwelgt.
Danach gibt ‚Hand. Cannot. Erase.‚ seine Körperlichkeit stückchenweise auf und breitet sich immer weiter aus. Die Kate Bush-verliebte Pianoballade ‚Routine‚ hofiert sein reichhaltiges Instrumentierung melodieselig bis zum Chor der Schola Cantorum Of The Cardinal Vaughan Memorial School, nach dem schwelgendem Mittelteil führen Leo Blair und Ninet Tayeb mit gewollt schwülstiger Stimme in den gallig aufbrechenden Schlußpart, der unangenheme Erinnerungen an Evanescence wachruft. Das Doppel aus ‚Home Invasion‚ und ‚Regret #9‚ übernimmt als ein im Metal verankerter Impro-Jam, der sich zu einer waschechten Gratwanderung zwischen soulig groovendem Funkexperiment und exaltiertem Fusionsrock auswächst.
Der unheilvoll klackernde, schlichtweg zu unoriginell bei seinen Vorbildern borgende 14-Minuten-Fiebertraum ‚Ancestral‚ entwickelt sich hingegen zu einer schwülstig mäandernden Nabelschau, die in der wildesten Abfahrt der Platte mündet, nur um Sekunden später den Ausläufern der letzten beiden Opeth-Platten zu folgen. Die Griffigkeit der Eingangsphase ist endgültig einer nicht restlos schlüssig wirkenden Selbstverliebtheit gewichen, die Grundpfeiler wirken ausgeschmückter, als sie es müssten – und das einfach nur, weil Wilson es eben kann.
Bis zur atmosphärischen Verabschiedung ‚Ascendant Here On…‚ greift ‚Happy Returns‚ noch die Versöhnlichkeit des Intros auf und erlöst sie in hymnischer Art mit harmonischen Gitarrensoliinteraktionen. Spätestens hier, wenn Wilson ‚Hand. Cannot. Erase.‚ aus seiner Verlorenheit auftauchen lässt, ergibt der suchende Leerlauf des Mittelteils der Platte doch noch einen übergeordneten Sinn, auch, wenn er dadurch songtechnisch nicht besser funktioniert.
Die Aufarbeitung der konzeptuellen Hintergrundgeschichte rund um Joyce Carol Vincent folgt dem musikalischen Ansatz dabei nahtlos, Wilson wechselt von femininen Innenperspektiven zur frei schwebeneden Beobachterrolle ohne Bruchstellen. „The basic story, or concept of the record – it’s about a woman growing up, who goes to live in the city, very isolated, and she disappears one day and no one notices. [Vincent] wasn’t [like that]. She was young, she was popular, she was attractive, she had many friends, she had family, but for whatever reason, nobody missed her for three years.“ erklärt Wilson seine Inspiration hinter ‚Hand. Cannot. Erase.‚, folgt seiner fiktiven Protagonisten „H.“ von traurigen Liebesbekundungen („I will love you more than I’ll ever show„) zu Erinnerungen an glücklichere Zeiten inmitten eines tristen Alltags, steuert aber unaufhaltsam dem Unvermeidlichen entgegen: „Everything must pass.“
Dass er hierbei nie die emotionale Tiefenwirkung seiner besten Arbeiten erreicht, in gewisser Weise eine oberflächlich schimmernde Reißbrett-Ausstrahlung ohne genügend Seele über die wirklich mitreißende, lebendige Direktheit auf Gefühlsebene stellt, ist dann eigentlich der gravierendste Vorwurf, den sich das nur wenige leere Meter laufende ‚Hand. Cannot. Erase.‚ gefallen lassen muss. Eine zutiefst profesionelle Progplatte, die einen in den schwächsten Momenten aber schlichtweg kalt lässt. So aufwühlend, intensiv und packend, wie es die dramatischen Ausrichtung der Platte eigentlich verlangen würde, gelingt das vierte Studioalbum Wilsons leider nie. Trotz seiner faszinierenden Ausstrahlung, den bisweilen grandiosen Hooks, zwingenden Melodien und dem immanenten Unterhaltungswert bleibt zu ‚Hand. Cannot. Erase.‚ stets ein Rest an Distanzgefühl bestehen.
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