Steven Wilson [24.04.2016: Orpheum, Graz]
Wo jedes Studioalbum neue Facetten des englischen Prog-Meisters freilegt, entlässt „An Evening with Steven Wilson“ abseits der erwartbar makellosen, bis ins Detail durchkomponierten Perfektion in Sachen instrumentaler und inszenatorischer Virtuosität ebenfalls mit einer überraschenden Erkenntnis: Der alterslos wirkende 48 Jährige präsentiert sich im Orpheum entwaffnend nonchalant als erstaunlich amüsanter Zeitgenosse.
Eine Einschätzung, den man über die unzähligen Studioalben des „king of prog rock“ freilich nur bedingt hätte treffen wollen. Das weiß auch der auf der Bühne mittlerweile extrem locker daherkommende Wilson selbst, weswegen er gleich eingangs die Frage klärt, ob er tatsächlich der „miserable Bastard“ sei, für den ihn alle Welt aufgrund seiner Platten halte. Spätestens danach sind alle Gräben überbrückt und Wilson führt gut gelaunt, ungemein charmant, enorm witzig und auch enorm redefreudige durch den Abend. Immer wieder unterbricht der barfuß im ABBA-Shirt über die Bühne schwebende Ausnahmemusiker den Songreigen für ausschweifende Monologe und humorvolle Dialoge mit dem Publikum, kündigt süffisant an, setlistentechnisch „the same shit“ wie am Vorabend in Linz abzuspulen und verspricht insofern „a very long Show“ und „a lot of fun with depressing songs„.
Soll heißen: Insgesamt servieren Wilson und seine atemberaubend versierte Band (Nick Beggs, Craig Blundell, Dave Kilmister und Adam Holzman sind zweckdienlich arbeitende Meister ihrer Instrumente) knappe drei Stunden Spielzeit (inklusive Zugabenblock und einer 20 minütiger Pause zwischen den beiden Sets, in denen stilvoll Bohren & der Club of Gore aus den Boxen strömen) – ein erstaunlich kurzweilig verfliegender Staffellauf.
Den Beginn macht dabei das zur Gänze dargebotene Material des aktuellen Studioalbums ‚Hand. Cannot. Erase‚, das in seiner Live-Umsetzung nicht nur von der grandiosen Bühnenshow sowie den maßgeschneiderten Visuals und Begleitfilmen profitiert, sondern auch die zur Mitte hin mäandernde Gangart der Platte rund um exaltierte Soli und instrumentale Ausflüge weitaus schlüssiger und zielführender auflöst, keinen Durchhänger kennt und den Spannungsbogen geschickt hoch hält. Da fallen nicht einmal die gravierenden Gitarrenprobleme während ‚Hand Cannot Erase‚ ins Gewicht – zumal der Sound ansonsten exzellent abgestimmt ist, Wilsons Stimme selbst bei der Wucht von drei Gitarren glasklar und nuanciert das zwar sehr gut gefüllte, aber nicht ausverkaufte Orpheum beschallt.
Der in Sachen Härte geschickt nach oben korrigierte zweite Teil der Setlist entpuppt sich dagegen als kaum chronologisch geordneter, Druck machender Streifzug durch Wilsons Vergangenheit und unmittelbare Gegenwart, indem es Porcupine Tree-Klassiker an Nummern des unlängst erschienenen Mini-Albums ‚4 ½‚ fügt.
Inmitten des genormten Konzepts der aktuellen Tour, wechseln in der Regel pro Show übrigens die ersten beiden Songs des zweiten Blocks – in diesem Wissen kann man sich durchaus ein wenig enttäuscht darüber zeigen, an diesem Abend nicht in den subjektiv noch verlockender anmutenden Genuss von ‚Drag Ropes‚ aus dem Storm Corrosion-Fundus sowie ‚Open Car‚ zu kommen – der 1996er Rückblick ‚Dark Matter‚ und eine schöne Version von ‚Harmony Korine‚ sind freilich auch kein Grund für Trübsal.
Zumal es danach in einer niemals nach Vorschriftsdienst klingenden Routine Schlag auf Schlag geht: ‚My Book of Regrets‚ legt sich tiefer in die Seile und muß noch einmal von vorne begonnen werden, weil Wilson in seinem Enthusiasmus zu singen vergisst, ‚Index‚ gerät zum perfekt getimten Gemeinschafts-Schnipser mit brachialer Breitseite.
Vielleicht das ultimative Highlight des Abends, sicher aber der Auftakt für das stärkste Trio der Show: Vor dem epochalen ‚Lazarus‚ seziert Wilson schonungslos den Ist-Zustand der Popwelt und verneigt sich danach mit dem knackigen ‚Deadwing‚-Monstrum vor Bowie und ‚Blackstar‚, bevor ‚Don’t Hate Me‚ sich irgendwo zwischen dem Porcupine Tree-Original und der jüngeren ‚4 ½‚-Version (die Vocals von Ninet Tayeb kommen im Gegensatz zum ‚Hand. Cannot. Erase‚-Set nicht vom Band, sondern werden erfreulicherweise wieder von Wilson übernommen) platziert: Großes Kino!
Für den instrumentalen Jazzmetal von ‚Vermillioncore‚ und ein hymnisch verwehtes ‚Sleep Together‚ spielt die Band dann (warum auch immer) hinter einem durchsichtigen Vorhang, der erst zum finalen Zugabenpart wieder fällt. Wilson erklärt dafür einleitend, warum der kürzlich verstorbene Prince – und nicht etwa Genesis – die größte Inspiration seiner Jugend war und brennt daraufhin mit ‚Sign “☮” the Times‚ („everybody else seems to cover ‚Purple Rain‘„) ein Tributfeuerwerk ab: Kaum zu glauben, dass der gleichzeitig nahtlos ins Gesamtgefüge wie angenehm eigenwillig hervorstechende Song erst während der Wien-Show spontan in die Setlist aufgenommen wurde (und übrigens ‚Space Oddity‚ verdrängt hat), so formvollendet sitzt er bereits.
Die auf der Bühne stehenden Musiker sind eben Vollprofis, zu jedem Moment perfekt aufeinander eingespielt – da heben sich schon mal alle Instrumente synchron oder man sinkt sekundengenau im Einklang zu Boden. Sicher: Viel Raum für individuelle Spontanität im Hinblick auf den punktgenauen Ablauf ist da nicht gegeben, die Improvisation kann nur in einem engen Korsett impulsiv sein. Das Quartett muss wie ein Uhrwerk funktionieren, auch um den Einklang mit den Visuals zu einem audiovisuellen Gesamtkunstwerk zu verschmelzen.
Man bekommt diese bedingungslose Professionalität hinter dem allgemeinen Spielwitz aber eben niemals primär oder konstruiert wirkend aufs Auge gedrückt – in Erinnerung bleiben da eher die vielen ausgelassenen kleinen Neckereien der Bandmitglieder untereinander, die schamanenhaften Ausdruckstänze Wilsons, oder die Augenblicke, in denen der Bandvorstand selbst andächtig die Fertigkeiten seiner Mitmusiker genießt, sie antreibt oder entspannt an dem auf der Bühne stehenden Holztisch (samt Rolodex) Platz nimmt und zufrieden die zelebrierte Makellosigkeit abnickt. Alle Beteiligten haben eben merklich Spaß an dem was sie tut – und übertragen diese Freude nahtlos auf das für Wilson „angenehm undefinierbare“ Publikum.
Nachdem ein dezent verhalten gefeiertes ‚The Sound of Muzak‚ („one of my catchier Songs„) und der betörende Schlusspunkt ‚The Raven That Refused to Sing‚ („one of the best songs I have ever written“ – zumal das modernere Soundgewand dieser Tour dem Song fabelhaft steht!) den ausführlichen, aber kaum lange genug gedauert habenden Abend beenden, streut Wilson noch Rosen: Es sei das vielleicht kleinste Konzert der aktuellen Tour gewesen, aber dafür auch eine der „most fun shows„. Was billige Phrasendrescherei sein könnte, kauft man dem Engländer in dem fast schon intim wirkenden Rahmen jedoch nahtlos ab: Alleine der Zug zur emotionalen Ebene gelingt Wilson als Direktor seiner mächtigen Liveband nämlich deutlich unmittelbarer, als in seiner Funktion als Studio-Gigant, wo Erwartungshaltungen ohnedies überboten werden. Rundum: Da strahlt das Fanherz!
Setlist:
First Regret
3 Years Older
Hand Cannot Erase
Perfect Life
Routine
Home Invasion
Regret #9
Transience
Ancestral
Happy Returns
Ascendant Here On…Dark Matter
Harmony Korine
My Book of Regrets
Index
Lazarus
Don’t Hate Me
Vermillioncore
Sleep TogetherEncore:
Sign “☮” the Times
The Sound of Muzak
The Raven That Refused to Sing
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