Sigur Rós – Valtari
Verweigerungshaltung auf isländisch: Sigur Rós setzen dort an, wo sie vor gut einem Jahrzehnt die Abzweigung vom Ambient weg Richtung ansatzweiser Konventionalität genommen haben. Ihr sechstes Studioalbum ist so eine subtile Soundlandschaft geworden, in der man sich verlieren kann – man frage nur Orri Páll Dýrason!
Mit Schlagzeug spielen hält er sich auf ‚Valtari‚ jedenfalls kaum auf, der Schlagzeuger von Sigur Rós. Es dauert knapp siebzehn Minuten oder zweieinhalb Songs, bis Dýrason sich doch erhebt, langsam aus dem Hinterhalt anpirscht und ‚Varúð‚ stakkatohaft voranpeitscht – davor und danach macht sich der Drumer, die gesamte Rhythmussektion auf ‚Valtari‚ jedoch kaum, und niemals in konventioneller Form bemerkbar. Das Instrumentarium, es perlt anschmiegsam übereinander, driftet ohne erkennbare Zielsetzung umher. Pianosprengsel betupfen zartgliedriege Auswüchse, Sänger Jonsi streift im Falsett durch Ambientwolken, die unweit seines Instrumentalwerks ‚Riceboy Sleeps‚ mit Lebensgefährten und Produzentenkollegen Alex mäandern. Die verstrichene Zeit seit dem letzten Sigur Rós Album, sie fühlen sich hier nach Jahrhunderten an, die in Zeitlupe von Statten gegangen sind. ‚Valtari‚ experimentiert mit Musik als Klangsammlung und losgelöste Tranceerfahrung ohne jegliche Konkretheit, lässt gelegentlich elektronische Elemente einfließen ohne diese zu binden, Strukturen verschwimmen vor den Augen und jedwede Habhaftigkeit gleitet mutwillig durch die Finger. Sigur Rós werkeln vier Jahre und eine Bandpause nach ‚Með suð í eyrum við spilum endalaust‚ am kompromisslosen Gegenentwurf zu dessen Kompaktheit, zu dessen Nahbarkeit, zu dessen Eingängigkeit. Wo 2009 Menschen im gleißenden Sonnenlicht über Autobahnen jagten, liegen sie nun alleine und langsam atmend im Gras, während der Tag sich wandelt.
Es gibt nur wenige Momente, wie den hymnenhaft aufsteigenden, wiederkehrenden Part – einen Refrain kann man das und sicherlich nichts auf ‚Valtari‚ nennen – in ‚Varúð‚, an dem man sich festhalten kann. Dann schmiegen sich Sigur Rós mit epischen Chorälen im Hintergrund an die ansonsten bedingungslos umschiffte Erwartungshaltungen, erschaffen doch Szenarien von aufgehenden Sonnen über Berghängen mit überlebensgroß agierenden Gesten, lassen ihre majestätischen Nicht-Wirklich-Post Rock-Gebilde über ‚Rembihnútur‚ zum Albumhöhepunkt ‚Dauðalogn‚ in Slo-Motion weitergleiten, alles andere nebensächlich und kleingeistig erscheinen. Und doch folgt erst auf das triumphale Dreigestirn die vollkommene Entschleunigung, Sigur Rós tragen ihre eigene Platte gemächlich zu Grabe. Neben Dýrason verschwindet auch Jonsi aus den melancholisch treibenden Instrumentalkompositionen, diesen atmosphärisch bedrückend um blanke Leere kreisende Geistererscheinungen von Songs. Bis zum leise rieselnden Pianofinale in ‚Fjögur píanó‚ verlieren sich die Isländer zunehmen in der schieren Erforschung unfokussierter Soundscapes, tauschen jegliche Euphorie gegen unartikulierte Klagelaute – und lassen damit auch eine ermüdende Eintönigkeit zu.
Um ‚Valtari‚ nachvollziehen zu können, braucht es einen Schritt zurück, der Fokus liegt auf dem großen Ganzen: Sigur Rós arbeiten gemächlich auf den Höhepunkt in der Mitte der Platte hin und nehmen sich noch mehr Zeit, um diesen Dramaturgieanstieg auch wieder zu beenden. Sie verzichten auf Ausbrüche ebenso wie auf die allzu offensichtliche inszenierte Theatralik des Vorgängers ‚Með suð í eyrum við spilum endalaust‚. Die großen Emotionen, sie finden auf ‚Valtari‚ nahezu unbemerkt statt, verstecken sich im Detail und hinter einer irritierend anmutenden, augenscheinlich passierenden Orientierungslosigkeit. Denn noch mehr als jedes Sigur Rós Album bisher baut ‚Valtari‚ darauf, unter den passenden Umständen konsumiert zu werden, fordert ein Entgegenkommen von Seiten des Hörers, zu dem die Isländer selbst diesmal ob des Fehlens jedweder am Pop orientierter Ansätze nicht wirklich interessiert waren. ‚Valtari‚ kann so ohne Widerspruch das schwächste Sigur Rós Album bisher sein oder bloß das Unscheinbarste; eine ereignislose zirkulierende Enttäuschung oder ein zurückgenommener Grower, die erste Platte der Isländer, die den Sommer nahezu vollends ignoriert oder schlicht der bezaubernde Soundtrack für die dunkle Zeit des Jahres: das verträumte ‚Valtari‚ kann in einem Moment alles sein und im nächsten nichts bedeuten.
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