Sigur Rós – Kveikur
‚Kveikur‚ beginnt mit ‚Brennisteinn‚, dieser himmelschreiend schönen Metal-Walze aus treibenden Schlagzeug und malenden Bassläufen – und endet mit ‚Var‚, einem elegischen Meer aus Pianoklängen und Wehmut. Zwischen eben diesen Polen erfindet sich die isländische Ausnahmeerscheinung Sigur Ròs für ihr siebentes Studioalbum dann auch tatsächlich ein ganzes Stück weit als Rockband neu.
Ein notwendiger Schritt, der weniger in der weitestgehend verhaltenen rezeptionellen Aufnahme des hochassoziativen Ambientmeeres ‚Valtari‚ fußt, als im Weggang von Gründungsmitglied Kjartan Sveinsson. Der Keyboarder und Multiinstrumentalist hatte nach fünf Platten und 13 Jahren keine Lust mehr auf eine gemeinsame Reise mit Jón Þór „Jónsi“ Birgisson, Georg „Goggi“ Hólm und Orri Páll Dýrason, weswegen ‚Kveikur‚ nun auch das erste Sigur Ròs-Album seit ‚Von‚ (1997) darstellt, dass das isländischen Postrock-Aushängeschild in nur dreiköpfiger Besetzung im Schweiße ihres Angesichts aus dem Proberaum stemmt. Weitläufige Soundflächen über epochale Spannungsbögen, wie sie Sigur Rós bisher so gerne auffuhren finden unter diesen Voraussetzungen deswegen nahezu gar nie statt. Denn ungeachtet der Tatsache, dass auch auf ‚Kveikur‚ natürlich wieder Glockenspiele, Bläser, Streicher, Chöre, Synthiemeere und allerhand instrumentales Brimborium durch den offenen Kosmos treiben, ist das siebente Album der ewigen Leisetreter über weite Strecken nämlich durchaus das (Indie-)Rockalbum geworden, das ‚Brennistein‚ und der Titelsong bereits vorab versprochen haben.
Soweit, wie die Boris-affinen, beinahe doomig groovende Vorboten weiß machen wollten, bewegt sich ‚Kveikur‚ im Gesamten dann allerdings keineswegs in dunkle Metal-Gefilde. Tatsächlich klingen die Isländer nicht nur in dem nach vorne holpernden Hit ‚Stormur‚ lebenfroh und optimistisch, wie sonst nur auf ‚Með suð í eyrum við spilum endalaust‚. Dessen Überschwänglichkeit ist auf ‚Kveikur‚ allerdings einem bedingungsloseren Druck in der generellen Ausrichtung gewichen, Sigur Ròs packen ihre Songs nicht mehr mit Handschuhen an, sondern treiben sie beizeiten in die Enge, drehen die Verstärker wenn Notwendig auch mal in den roten Bereich und fürchten sich nicht mehr vor einer versöhnlichen Dissonanz bei den bratzenden Gitarrenklängen, wie vor allem der schwer kriechende Titelsong unter Beweis stellt. Dennoch lotet auch ‚Kveikur‚ mit diesen vergleichsweise radikaleren Umgangsweise vor allem weitere Facetten einer musikalischen Eleganz aus: im Trio haben Sigur Ròs zurückgefunden zu unmittelbar funktionierenden, kürzereren Melodiebögen, artikulieren diese mit aufgestrickten Hemdsärmeln greifbarer, körperlicher und auch ansatzweise konventioneller als je zuvor.
Exemplarisch dafür steht das zuletzt verschmähte Schlagzeug im zupackenden, Arcade Fire-nahen Rock von ‚Rafstraumur‚ im Fokus und verliebt sich dabei neu in die archaische Grundausstattung von Bass und E-Gitarre. Gleicherart poltert ‚Bláþráður‚ kompromisslos zu einer wahren Hymne der Sehnsucht, ‚Ísjaki‚ stapft so martialisch wie anmutig zu pfeifenden Sequncern. Über fragiler Percussion baut hingegen die schellenartige Winterritt-Fanfare ‚Hrafntinna‚ nahe an der Komfortzone der Band auf seine elegische Melodie und verebbt nach und nach in einem zeitlosen Horn-Outro. Immer wieder gönnen Sigur Ròs ihren Stücken derartige Abregungen und Ausläufer an ihren Enden, trumpfen die Isländer doch drumherum mit wahrhaft überlebengroßen Refrains auf, die so erst einmal verdaut werden müssen: Momenten zum Niederknien und epochal auf den Punkt gebrachte Songs, die die ganze Welt umarmen möchten, sind die natürliche Folge.
Aus diesem eingängigen, packenden und mitreißendem Sog an Songs, dem wahrscheinlich kurzweiligsten den Sigur Ròs je geschaffen haben, fällt neben der abschließenden ambienten Pianolandschaft ‚Var‚ nur ‚Yfirborð‚: ein mal behände pulsierendes, dann auf eilenden Discobeat bauendes, verspultes Experiment, dass zwischen umgestülpten Samples und Vocaleffekten vor allem Atmosphärearbeit leistet und eine Art Verschnaufpause zwischen all diesen erhabenen Ohrwürmern darstellt. Denn ungeachtet der Tatsache, dass Sigur Rós im eigenen Klangkosmos in einer Ecke Stellung beziehen, die die bisher härteste (alles in Relation zu sehen, natürlich!) und getriebenste Inkarnation der Band heraufbeschwört, geht deren verinnerlichte Form von wohliger Heavyness ganz und gar nicht auf Kosten der ureigenen Schönheit von Sigur Rós – vielmehr kehrt sie diese in bisher ungekanntem Licht in gewohnter Intensität neu hervor. Oder anders gesagt: Sigur Rós erschufen immer schon Musik, die unheimlich viel geben konnte. Nun gönnen sie sich erstmals den Luxus eine solche so erschaffen, die auch austeilen kann.
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