Sigur Rós – Átta
Neoklassizistischer, kammermusikalischer Ambient in purer Schönheit: Átta klingt wohl genau so, wie man sich die Rückkehr von Sigur Rós nach dem Ausstieg von Schlagzeuger Orri Páll Dýrason und der Rückkehr von Kjartan Sveinsson im Grunde erwarten konnte.
Zehn Jahre nach Kveikur geht Átta, das achte Studioalbum der Isländer, im gedimmten Licht nicht nur zurück zu Valtari, sondern löst das Songwriting sogar noch strukturfreier im Ambient auf, reduziert (…)die Ästhetik weitestgehend auf Jónsis Stimme, formoffene Synthesizer-Flächen und Robert Amos‘ gesamtes London Contemporary Orchestra – das nicht kitschig kleistert, sondern mit viel Gefühl die Atmosphäre der Platte trägt und mitdefiniert.
Die Band spricht von einem minimalen Einsatz an Schlagzeug – und meint damit eigentlich, dass es bis auf die sanfte Kickdrum im fabelhaften Klettur (mit stringent pochenden, beruhigenden Beat unter einem Meer aus naturalistisch-neugierig wuchernden, halluzinog-heulend verschwimmenden Streichern, so betörend und flehentlich erhebend) sowie dem ähnlich begnadeten Gold (mit seinem wärmenden Klavier, opulent liebäugelnd) einfach keinerlei Drums gibt; und von dem Ziel „for the music to be really sparse, floaty and beautiful“, „a desire for a feeling of unity when overwhelmed by the tumultuous circumstances„, „that feels like a balming and unifying bond„, „more introverted than before. It’s very expansive with this sound of strings, but it looks within more than outside“. Besser kann man den Charakter von Átta tatsächlich kaum zusammenfassen.
Auf die daraus resultierende gleichförmige Einheitlichkeit muß man sich freilich einlassen (wollen): Wo grundlegend einfache und simple Kompositionen an sich mit einer subversiven Haltung auf eine opulente Leinwand aufgetragen werden, reichhaltige Tiefe statt Tempo herrscht, und viele Melodien wie rührende Jonsi’eske Solo-Skizzen klingen, die Coldplay in ihren Intros mit melancholischen Pathos und nostalgischer Zuversicht am Horizont anvisieren, aber nicht erreichen, kann Átta wohl sicherlich nur zu leicht auch einen langweilenden Eindruck vermitteln.
Doch obwohl kaum eine Nummer dezitiert einzeln aus dem Gefüge gepickt werden möchte, erhebt sich hinter der Unscheinbarkeit aber – auch, weil die hier und da zu lang ausgefallenen, ein paar leere Meter vermessenen 56 Minuten mehr sind, als die Summe ihrer Teile – eine wohltemperierte, dynamisch in den Nuancen fesselnde Reise, auf der sich die Momente wohliger Schönheit beinahe ausnahmslos als bestechender Seelenbalsam entpuppen, der wie der vertraut tröstende Soundtrack einer undefinierbaren Sehnsucht in den Arm nimmt und zauberhafte Erinnerungen zu wecken scheint, die man bis zum Genuß der Platte eigentlich noch nicht im eigenen Befinden abgespeichert hat.
Glóð gleitet mit gepitchten Kinderstimmen episch durch den ätherisch verschwommenen Weltraum, ein sanft in den Abendhimmel getragener Fluss aus Gesang, Synthies und der milden Opulenz orchestraler Arrangements setzt den irgendwo klassichen Sigur Rós-Ton, der in dem fragilen, ewigen Instant-Klassiker Blóðberg, das in seiner leisen Brandung schwelgend bezaubernd in aller Ruhe wogt, regelrecht magisch ein erstes Highlight findet. Die relative Dringlichkeit und emotionale Dynamik von Skel definiert sich durch das verträumte Klavier, derweil das glimmernde Andrá gar ein paar Acoustic-Gitarren und postrockigen Optimismus in die Score-Insel pflanzt und das choral schraffierte Mór in verhaltener Dramatik keinen Unterschied zwischen Trauer und Hoffnung macht. Vieles findet nicht zum Punkt und gerade der Mittelteil des Album mäandert – doch ist es essentiell, sich in dieser körperlosen Ziel-Freiheit zu verlieren.
Die Sehnsucht und der Raum von Ylur und das friedliche Dösen des heimlich ergreifenden Geniestreichs Fall scheinen durch die Finger zu gleiten und doch einen bestimmten Punkt der Wehmut zu treffen, dessen Wirkung seltsam unwirklich und nebensächlich, aber zeitlos und intim berührend ist: Átta auf einem einsamen Spaziergang in der Nacht zu hören, kann magisch sein, wo es im Alltagstrubel seine Wirkung „nur“ auf angenehm berieselnde Weise entfalten mag.
Átta ist kein Album für jede Gelegenheit, es zündet vielleicht sogar nur selten ultimativ in all seiner Grandezza – dann aber kann es ein Werk wie eine Epiphanie sein.
Wie das bei seinem Erscheinen unter Wert verkaufte Valtari ist Átta sowieso ein Grower; aber einer, der dabei dennoch schon seit Ewigkeiten einen besonderen Platz im Herzen zu haben scheint, ohne klare Konturen anzunehmen oder aufzulösen. Und ja, ein klarer Spannungsbogen hier oder kontrastreiche Amplituden dort, die eine oder andere kathartische Entladung hätten dem Kontext wohl sogar wirklich gutgetan.
Wenn selbst 8 sein großes Panorama jedoch mit einem solch unverfänglichen Klimax anvisiert, der ohne Konsequenz durch die Finger gleitet, bevor ab der Mitte der Abspann im kristallinen Nebel beginnt, ist das allerdings durchaus symptomatisch für ein (nicht eintöniges, sondern meditatives) Album, das über weite Strecken die Textur vor das Songwriting stellt, seine Aura vor das griffig erzwungene Momentum hebt, und dem das vage Einfangen flüchtiger Melodien genügt, weil die eigene Fantasie den Rest mit Tränen in den Augen und sanftem Lächeln in kosmischer, universeller Weisheit hinfortträgt.
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