Sigur Rós- 22° Lunar Halo
22° Lunar Halo ist das zweite von zwei Avantgarde-Releases von Sigur Rós zum Record Store Day 2019. Vielleicht nicht, wonach es dem Fan an sich zu verlangen glaubt – und dann auch tatsächlich eher eine Diskografie-Fußnote ohne viel Wiederspielwert.
Dass sich zur Musik von Sigur Rós auch ohne konventionelle Rhytmen und klassische Strukturen wunderbare Tanzchoreografien erarbeiten lassen, ist spätestens seit – Spoiler im Link inkludiert! – dem beeindruckenden Finale der dreizehnten Staffel It’s Always Sunny in Philadelphia kein Geheimnis mehr, sondern auch für die Cloud Gate Dance Company Fakt. Die durfte für 22° Lunar Halo schließlich auf „Music from the band’s career“ zurückgreifen, „which was then twisted, bent and broken, and finally added to in the band’s Reykjavík studio to create a new perspective for the performance“ eines „new dance piece by taiwanese choreographer and artistic director cheng tsung-lung“.
Noch ausführlicher wird der Hintergrund im Pressetext erklärt: „In ancient folklore, a lunar halo is a sign foreboding changes, while scientifically it appears when the moonlight is refracted by 22 degrees through millions of ice crystals suspended in the atmosphere. accompanied by the oneiric music in collaboration with sigur rós and kjartan holm, this new dance piece by taiwanese choreographer and artistic director cheng tsung-lung from the cloud gate 2 excavates our deepest fear toward ourselves as human beings through bodies of dancers morphing into concrete symbols of anxieties, struggles, desires and loneliness in the lunatic, ever-changing world of high-end technology, and eventually leads us to a slim hope of love and inner serenity.“
So konkret das Konzept über 22° Lunar Halo ausgebreitet wird, so unfokussiert bleibt jedoch die Musik dahinter an sich.
With Arms and Legs Moving, The Tell Tales wandelt ein funkelndes Gleißen zu einem bedrohlichen Drone, düster grollend. Ein beklemmender Score, bevor das Spektrum als leises, ätherisches Durchatmen eine kosmische Ruhe findet, mit Zeitlupe in ähnliche Gefilde wie zuletzt Nivhek bimmelt: Ein windspielartiges Kaleidoskop skizziert perkussive Elemente (die auftauchen und wieder verschwinden) und ist ein Valtari–Déjà-vu, mehr noch mutet With Arms and Legs Moving, The Tell Tales jedoch als Soundsammlung wie eine willkürliche Collage aus Impressionen an, die zwar assoziativ angenehm zu hören ist, um die Gedanken schweifen zu lassen, mit ein bisschen Distanz aber doch vor allem ein unentschlossenes Plätschern darstellt.
Zudem bleibt 22° Lunar Halo auch in weiterer Folge ein Flickwerk aus Passagen. Das deutlich spannendere They Glow in Light, Like Coloured Glass lässt die bisher rein instrumentale Platte Jónsis Stimme vergänglich in den Arm nehmen (und am Ende den Rahmen damit auch wieder schließen), scheint sich mit melancholischen Klavier zu trösten und doch wieder pulsierenden Suspence aufbrandend zu ergeben, holt einen abgedämpften Elektro-Dance Beat in den Brennwinkel, täuscht Field Recording-Versatzstücke an oder lässt einen archaischen Rhythmus mit Soundtrack-Flair antauchen – diese pulsierende Percussion-Phase ist das Herzstück der Platte.
In den besten Momenten (und gerade in der starken zweiten Hälfte der Nummer!) schließt das an Größen wie Tim Hecker oder Oneohtrix Point Never an, wo all diese Momentaufnahmen ohnedies durch eine homogene Atmosphäre stimmig miteinander verbunden werden. Doch wirkt das Gesamtwerk bis zu seinem entlohnenden Finale über zumindest drei Viertel der Spielzeit auch wie eine Abfolge von Sackgassen, deren verbindende Nahtstellen stets erkennbar bleiben. Das macht 22° Lunar Halo vielleicht nicht automatisch zu einer schlechten Investition. Aber doch zu einer, die nur Komplettisten unbedingt benötigen werden – und selbst diese werden diese 43 Minuten (im Gegensatz zum zeitgleich erschienenen Variations On Darkness) zukünftig wohl nur selten auflegen.
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