Ryan Bingham – American Love Song
Seit seinem Oscar-Gewinn 2010 (für The Weary Kind) scheint Ryan Bingham ein wenig das Gespür für Maß und Ziel verloren zu haben. Sein sechstes Studioalbum American Love Song ist die bisher vielleicht deutlichste Manifestation dieser mäandernden Verirrung.
Es ist durchaus sinnbildlich, dass der 38 Jährige die Zeit seit Fear and Saturday Night (2015) unter anderem damit nutze, um eine klischestrotzende Rolle in der teilweise herausragend starken, teilweise grotesk schlechten Taylor Sheridan-Serie Yellowstone zu übernehmen: Bingham will jetzt auch Schauspieler sein.
Dass er auch als Musiker nicht genug kriegt, zeigten ja schon die Vorgängerplatten seit dem bald eine Dekade alten Junky Star. Und auch American Love Song will sich nun nicht auf reinen Country- oder Roots-Rock, auf Americana-, Folk- oder Singer-Songwriter-Essenzen festnageln lassen. Was einerseits kein Problem ist, weil Bingham soviel Klasse hat, jede Ausrichtung solide zu bedienen, aber er diese Wandelbarkeit dann (eben gerade in Relation zu seinen angestammten Qualitäten sowie gerade den überragenden frühen Studioalben) weniger als Ausdruck von Ambition und kreativer Schaffenskraft in die Waagschale wirft, als dass das Songwriting dahinter ein beliebiger und austauschbarerer für die breitere Tragfähigkeit geworden ist, Bingham mittlerweile mit reduzierten Ecken und Kanten in the middle of the road doch zu gefällig klingt – was bei einem Typ mit so einer Stimme leider etwas heißen will.
Vor allem vertändelt sich American Love Song über seine viel zu ausführliche Spielzeit von 67 Minuten, pflegt über erschlagende 15 Nummern eine latent unaugegorene Gesamtdynamik und kann keinen restlos runden Fluss erzeugen.
Gerade die rockigeren Nummern, im Grunde ideal vermarktbares Futter für die Käuferschicht zwischen Bruce Springsteen und Brian Fallon, machen zwar ordentlich Stimmung und gehen reihum gut ins Ohr, entwickeln aber auf emotionaler Ebene kaum Gewicht und laufen deswegen nicht zwingend als routinierter Soundtrack für Roadhouse-Szenen, die Bingham nicht an Shooter Jennings oder Whiskey Myers abgeben will. Der enorm eingängig rumpelnde Opener Jingle and Go klimpert stoppend vor souligem Background, Nothin‘ Holds Me Down zieht das Tempo flotter an. Pontiac packt die Fidel aus und das charismatische, aber im Kontext deplazierte Got Damn Blues die härteren Riffs, bevor das stoische Hot House aufgerauht den kantigeren Jam probt. Noch besser: Blue, das eine flehende, tolle Dramatik evoziert.
Und um es noch einmal explizit hervorzustreichen: Keine dieser Nummern ist per se schlecht, keine ein unbedingter Ausfall – aber eben „nur“ souveräne Ohrwürmer, die innerhalb ihres Verlaufs kaum Entwicklung zeigen und allesamt gekürzt werden hätte können. Für die essentielleren Momente muss man deswegen (trotz der auch dort anzutreffenden Kritikpunkte) anderswo auf American Love Song suchen.
Wird das Szenario wie in Lover Girl ruhiger, introspektiver und getragener, besticht Bingham auch wieder berührender und intensiver. Einsame Klagelieder an der Gitarre wie das beinahe puristische Appalachenstück Beautiful and Kind oder das textlich klar positionierte America transportieren, wie auch das entspannte Blues Lady und die Melancholie von Stones, eine rundum authentische Schönheit. Dann überzeugt American Love Song mal mit klassischer, minimalistischer Grandezza am balladesken Lagerfeuer (Wolves) und geht dann wieder breiter in die Bedeutungsschwere (What Would I’ve Become), bringt Dylans Mundharmonika ins Spiel (Time for My Mind) oder schüttelt unangestrengte Singalongs der Marke Situation Station wie nebenbei aus dem Ärmel.
Dieses zu inkonsistente Auf und Ab in qualitativer Sicht hätte mit einer strengeren Selektion problemlos umgangen werden können, weswegen sich American Love Song letztendlich auch unter Wert verkaufen muss, obwohl die Platte nach einer anfänglichen Enttäuschung durchaus wächst, aussöhnt. Bingham reflektiert trotzdem zu selten, wo seine tatsächlichen Stärken liegen, hätte kaum subversives Material ausmustern müssen, das seinen hohen Standards nicht genügen sollte – stattdessen walzt er es gekonnt aus. Mit schwammigen Fokus auf allen Hochzeiten tanzen zu wollen beschert dem Wahl-Texaner deswegen zwar weiterhin keine schlechte Platte – aber eben doch eine unnötig mäandernde, dezent frustrierend nicht zum Punkt findende.
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