Puscifer – Existential Reckoning

von am 10. November 2020 in Album

Puscifer – Existential Reckoning

Elektronischer Art Rock zwischen markanten Beats und aufgeräumten Synth-Melodien: Maynard James Keenan erfindet seine vom Soloprojekt insgeheim längst in den Bandkontext gewachsene Plattform Puscifer auf Existential Reckoning mit abstrusem Hintergrund-Konzept abermals neu.

Weil auf dem vierten Album von Puscifer die übergreifende Ästhetik stets über individuell zwingenden Szenen steht, die stilistische Prägung schwerer wiegt als das explizite Songwriting und paradoxerweise trotzdem (oder eben: gerade deswegen!) nur das Gesamtwerk ein annähernd erfüllendes Hörerlebnis bieten kann, ist Existential Reckoning als faszinierende Nabelschau mit über einer Stunde Spielzeit schlichtweg um mindestens 20 Minuten zu lang ausgefallen: Beinahe jede Nummer hier hätte ein engerer Fokus mit stärker gestrafften Konturen gut getan, denn wo die Kompositionen die mäandernden Fahrigkeit mit atmosphärischer Tiefe gleichstellen, würde eine kompaktere Gangart den griffigeren Reibungspunkte einen gewichtigsten Stellenwert geben, alles präziser akzentuiert auftreten.

Was so vor allem im Mittelteil der Platte auffällt, wenn hinter einer gewissen Gleichförmigkeit nur noch wenig hängen bleibt, man auf den stimmungsvollen Durchzug der Nebensächlichkeit schaltet. Theorem schmiegt sich an seine ambienten Schemen und UPGrade texturiert mit Synthies und kaum konkreten Gitarrensprengseln sein Rhythmus-Gerüst, das wie in allen Songs als Basis den Leitfaden im MO vorgibt, kippt ohne die Funken wirklich guter Ideen jedoch immer mehr in unverbindliche Territorien, bevor Bullet Train to Iowa nachhallende offene Akkorde und „Uhuhuuuu“-Passagen alleine nicht genügen, um nachhaltigen Eindruck zu provozieren.
Leere Meter und selektive Schwächen kennt man im Keenan-Kosmos ja seit Eat the Elephant (2018) und Fear Inoculum (2019), auf Existential Reckoning schlagen diese Schönheitsfehler jedoch ohne ausgleichende Genie-Amplituden in den Kompositionen auffälliger zu Buche.

Auch darüber hinaus setzt Puscifer Merkmale und Evolutionsprozesse der jüngeren Diskografie des 56 Jährigen jedoch ansatzlos fort. Wenn Bread and Circus Schaltkreise flimmern und bedächtig pulsieren lässt, sanfte Gitarren zaghafte Melodien installieren, die weniger am Momemtum, als am Ambiente interessiert sind, und sich Keenan über weite Strecken von den geschnipselt eingeworfenen Stimmen von Carina Round (neben Mat Mitchell mittlerweile unerlässlich für die Band) begleiten, etabliert das nicht die den typischen Sound der Platte, sondern klingt auch so, als hätte Dave Longstreth die elektronischen Ausläufer der letzten A Perfect Circle-Platte mit den Dirty Projectors weitergedacht. In Apocalyptical oszillieren die weiblichen Vocals catchy über einen stoisch wummernden Beat, die Gitarren verzahnen sich über den düsteren Synthies und Keenan flüstert wie auch schon auf der Tool-Rückkehr eher, als dass er jemals kraftvoll intonieren würde.
In dieser Ausgangslage schleichen sich einnehmende Segmente wie zufällig durch die Klang-Architekturen. Strukturoffen und nicht zwingend, streifen Songs wie The Underwhelming (ha!) eher hinterrücks hängen bleibende Hooks, deren Hartnäckigkeit sich erst mit Abstand entfaltet, der Pop und gar Funk bleiben eine vage Ahnung. Ähnliches gilt für Personal Prometheus, dessen funkelnde Nuancen an The Nurse Who Loved erinnern und ähnlich körperlose 80er-Tendenzen als unendlich behutsame Elegie ausbreiten, mit beschwörenden Grundzügen und schamanischer Patina.

Grey Area ist eine dystopische Bestandsaufnahme („No SI override/ We’re on the verge of extinction/ Hallucinating to survive/ Here in the digital paradigm“) in entschleunigter Zeitlupe mit entfremdeten Effekten auf der Stimme, eine digitale Trance, in der man stellvertretend baden soll – trotz der theoretischen Verortung bis in den Alternative Rock gibt es keine Ausbrüche, keine Katharsis, keine zwingenden Höhepunkte, sondern höchstens subversiv im Ansatz aufwühlende Unterschwelligkeiten.
A Singularity entschlackt seinen ätherischen Pop bis kurz vor den Minimalismus, der letztendlich doch bedächtig erblüht und Postulous brabbelt eilig zu einem aufgekratzten Narkose-Trip Hop aus der Schule von These New Puritans. Fake Affront schüttelt seine „Shut the fuck up!“-Zeilen zur The Cure– Optik und straft all jene, die meinen, es hier mit einer flüchtigen Baustelle zu tun zu haben – dieser Grower von einer Platte hat so viele tolle Szenen, dass deren phasenweise Orientierungslosigkeit in der enervieren könnenden Masse auch ohne destillierendes Aussieben höchstens latent frustriert. Viel eher jubiliert Bedlamite zurecht jauchzend, während Maynard in die dunkle Bandbreite geht und im Finale sogar noch Hoffnung findet „It’s gonna be alright/ Everything will be alright“.

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