pg. 99, Unable to Fully Embrace this Happiness, Mališa Bahat, Rivers Run Dry [09.04.2025: Postgarage, Graz]

von am 11. April 2025 in Featured, Reviews

pg. 99, Unable to Fully Embrace this Happiness, Mališa Bahat, Rivers Run Dry [09.04.2025: Postgarage, Graz]

Head in the Clouds bricht seine Zelte in Graz ab, verabschiedet sich aber mit einem wahrhaftigen Feuerwerk von einem Konzertabend: Vor (der alle Erwartungen jenseits des eigenen Legenden-Status übertreffenden Guitarmy) pg. 99 geben sich die Hochkaräter die Klinke in die Hand.

Wobei Rivers Run Dry als Einstieg noch merklich Luft nach oben lassen. Dem gefühlt nicht wirklich aus sich herausgehenden Quartett aus Budapest mangelt es nämlich hinter einer relativen Gleichförmigkeit an der individuellen Herangehensweise an den Crust – was jedoch nur dann wirklich zum Problem wird, wenn es in einen leidlich inspirieren D-Beat-Komfortzone galoppiert. Abseits davon hat sich die Band aber vornehmlich über einige Splits bereits eine kurzweilige Kompetenz erspielt, die wirklich rundum solide abliefert und im besten Sinne überzeugend per se nichts falsch macht.

Dennoch sind Mališa Bahat bereits mindestens einen Level weiter. Die sind für die leider ausgefallenen (aber personell denoch beinahe vollständig anwesenden) Varicella Zoster eingesprungen, übernehmen deswegen allerdings keineswegs den Posten eines Lückenfüllers. Mit ein paar Minuten Verspätung lassen sie bei ihrem ersten Graz-Gastspiel seit 2018 ohne Aufwärmphase vielmehr keinen Zweifel daran, dass sie ihren Screamo live noch energiegeladener, roher und zwingender von der Leine hetzen, als das auf dem verdammt starken (an diesem Abend beinahe die gesamte Setlist der Band speisenden) Debütalbum Lovers. Loners. Losers. im vergangenen Jahr gelungen ist.
Wie herrlich einfallsreich das Songwriting der vor 2024 eine mehrjährige Pause einlegenden Zagreber ist, indem es voller interessanter Kniffe steckend mal hier eine besonders geile Gitarren-Idee einwirft und dort voller rhythmischer Finten arbeitet, kommt abseits des Studios jedenfalls mit noch mehr muskulösem Dampf unter der Haube in einer idealen Dringlichkeit zur Geltung. Die Performance sitzt außerdem ohne Brimborium, aber eindringlich beschwörenden Gesten mit viel Leidenschaft – also bitte nicht wieder acht Jahre bis zur Rückkehr warten!

Setlist:
Waltz in the High Castle
Father’s Deeds
Shadow Charades
The Notebook
Moment of Inertia
5 Sunset Blvd.
You Are the Reason
Mother’s Words
Open The Last Bottle
Burden of Comfort
Lovers. Loners. Losers.

Dass die sich in den vergangenen Jahren viel zu rar gemacht habenden Unable To Fully Embrace This Happiness empfundenermaßen aktuell immer dann auftauchen, wenn es arrivierte Szene-Legenden wie Jeromes Dream (in Wien) oder nun eben pg. 99 zu supporten gilt, hat einen einfachen Grund: die Truppe gehört einfach zum Besten, was sich im Emoviolence auffahren lässt und muß internationale Vergleiche nicht scheuen.
Wer das (offenbar doch nicht mehr als Echelons firmierende) Trio vor sich auf der Bühne erlebt, unterschreibt diesen Fakt selbst beim Erstkontakt, so himmelstürmend extatisch die Musik da ohne Aufwärmphase im zielstrebigen Chaos von 0 auf 100 losbricht.
Die Intensität, die die (offenkundig eine rege Fan-Unterstützung rekrutierende) Band aus Klagenfurt von der ersten Sekunde an – bzw. sobald die zu aggressiven Scheinwerfer einer grundlegend sehr sparsamen Lichtshow gedrosselt worden sind – entfesselt, ist jedenfalls nichts anderes als absolut furios. Keine Ahnung, ob es da am meisten Bock macht, sich von den (live fast schon zum Grind hetzenden) Duracell-Drums den Atem verschlagen zu lassen, die superben Bassläufe zu bestaunen, oder sich von der Energie der Gitarre mitreißen zu lassen – es ist aber auch egal: Unable To Fully Embrace This Happiness rufen die existenzialistische Verzweiflung in der Nonchalance zwischen den Stücken einfach grandios ab.
Dass der Mix der Vocals dabei eine Spur zu leise ausgefallen ist stimmt zwar, doch passt das durchaus zur kreischend-beißenden, messerscharf schneidenden Lo-Fi-Attitüde. Zumal der Sound so oder so dennoch stark ist, und die Setlist durch nahezu alle Ausleger der überschaubaren Diskografie jagt (inklusive Varicella Zoster-Feature, einem langen Gitarren-Intro für It’s OK, I Got It Second Hand, einem relaxten Indierock-Ausflug und dem durch den Soundcheck insgesamt dreimal gespielten Pepper & Caraway Seed), um trotzdem perfekt auf den Punkt zu finden.


Und dann die erhffte Krönung. Alleine der Umstand, pg. 99 tatsächlich noch einmal live erleben zu dürfen – und dann sogar quasi vor der eigenen Haustür -, kommt praktisch der späten Erfüllung eines Jugendtraums gleich. Noch besser ist da nur, dass die Ikonen-Partie die von der Vorfreude befeuerte immense Erwartungshaltung nicht nur locker stemmt, sondern sogar scheinbar mühelos plattwalzt. In Form und Inhalt, Volumen und Prägnanz.
Knapp 28 – von Trennungen, legendären sonstigen Projekten und Reunions geprägte – Jahre nach ihrer Gründung ist die Band aus Sterling, Virginia kein Nostalgie-Act, sondern ein urgewaltiger, vitaler Organismus aus mittlerweile sage und schreibe neun Musikern (weil zu den zwei Sängern, zwei Bassisten und einem Schlagzeuger mittlerweile eine vierte Gitarre hinzugekommen ist), der sich wie ein Wollmilchsau des Screamo über den Sludge bis zum Postrock und darüber hinaus ausgebreitet. Neben kurzen Attacken, die in wenigen Sekunden alles in Grund und Boden prügeln können, dehnen sich anderswo Songs zu erhabenen Monolithen wie im Gedanken an Saiten-Orchester a la Glenn Branca oszillierend, und muten dabei insofern nicht selten wie die brüllende, kloppende Hardcore-Alternative zu Bands wie Goodspeed oder Swans an. Das ist alleine in seinem Erscheinen mächtig, imposant und ein bisschen ehrfurchtgebietend.

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Weil es auf der vollgepferchten Bühne eng ist wie Sau (und er insgeheim Angst habe, dass ihn all die rücksichtslosen Gitarren-Typen mit ihren als Einheit arbeitenden Instrumenten verletzen würden), nimmt Blake Midgette nicht nur gemeinsam im Hahnenkampf mit einem (vom Derwisch zum in Trance agierenden, auch in andächtiger Katharsis knieend umschaltenden) Chris Taylor in die Mangel, sondern wütet bald mitten im Publikum (und weckt damit durchaus Erinnerungen an Fucked Up in der PPC Bar), liegt später verausgabt vor der Menge und teilt das Mikro gerne – selbst jüngere (Emo-)Generationen beweisen sich als überraschend textsicher, die Begeisterung für das keineswegs in der Vergangenheit stecken gebliebene Material von pg. 99 ist spürbar.
Vor allem den alles in die Waagschale werfenden Musikern selbst merkt man jedoch ihre Freude am Konzert durch zahlreiche kleine und große brüderliche Gesten auch ständig an. Für alle Anwesenden ist dieser Abend mutmaßlich eine Herzensangelegenheit.

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Die Präsenz und Konsequenz der voll funktionierenden Wahlfamilie pg. 99 ist bestechend, sowohl physisch greifbar als auch transzendent mitnehmend, zündet auf so vielen Ebenen und macht bei aller Brutalität glücklich, auf schmerzhaft schöne Weise. Die bisher verhaltene Stimmung im 2nd Floor der Postgarage kommt deswegen auch in Bewegung, wenngleich Versuche des Crowdsurfens in einer bestenfalls solide gefüllten Location zwangsläufig nur von mediokremErfolg gekrönt sein können. Egal! Stattdessen wächst ein Highlight-Moment in den nächsten und von dort direkt zu Instant-Erinnerungen im Stammhirn für legendäre Konzert-Erlebnisse.
Die Rufe nach einer Zugabe quittiert eine sich emotional auswringende Band dann nach etwas über einer Stunde hemmungsloser, vielschichtiger Tour de Force mit ehrlich amüsiertem Gelächter – über einen perfekten Spannungsbogen in der Setlist haben pg. 99 (die sich rund um die Show dann auch noch allesamt als enorm sympathische, nahbare und unbedingt freundliche Bande entpuppen) eben alles gesagt und lassen reinen Enthusiasmus zurück.
Oder beinahe: Eine gebührendere finale Head in the Clouds-Veranstaltung als dieser Triumphzug von einem Abend wäre zwar kaum denkbar gewesen – Stefan Tomic wird der hiesigen Veranstaltungsszene jedoch einfach nur schmerzlich fehlen.

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Setlist:
More complicated than a Sci fi flick
Yr face
Punk rock in the wrong hands
Ruiner of life
In love with an Apparition Faces sunken by letting go
Comedy of Christ
Living in the skeleton of a happy memory
The Longer Now
Virginia
Hollowed out chest of a dead horse
Goin South
Ballad of circling vultures
We left as skeletons
Humans with forked tongues

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