O’Brother – Disillusion
O’Brother hätten es sich nach dem hohe Wellen schlagenden Einstandsgeniestreich ‚Garden Window‚ definitiv einfacher machen können. Stattdessen gebiert die Band einen massiven, ausladenden und auch schwer verdaulichen Brocken von einem Album, das nicht nach sofortiger Liebe bettelt, letztendlich aber die Vermutung festigt, dass das Quintett aus Atlanta tatsächlich das Beste ist, was dem schwebenden Grenzgang zwischen atmosphärischem Posthardcore und zupackendem Postrock passieren konnte.
Der monolithische Moloch ‚Disillusion‚ beginnt mit ‚Come Into the Divide‚: einem mäandernden, scheinbar ziellos wuchernden Gewächs, ein mitternächtlicher Fiebertraum in Zeitlupe. „Come gather inside/ And pour yourself some wine/ Drink to our demise“ sinniert Tanner Merritt ätherisch und klingt, als würde Jeff Buckley am Grund des Ozeans über halluzinierende Gitarrenwelten seinen unheilvollen Sirenengesang an der Pforte zur Unterwelt anstimmen.
Wie schon ‚Malum‚ seinerzeit ist auch ‚Come Into the Divide‚ nur ein Vorspiel für seinen direkten Nachfolgesong, der in Form von ‚Parasitical‚ erwartungsgemäß mehr Bein aufs Gaspedal setzt, sich dennoch auch verschlossen gibt: „I guess this life is better than no life“ heißt es pragmatisch mit Wut aus dem Bauch gepresster Nachdenklichkeit, die Gitarren braten heftig, der Bass groovt in Untiefen, das Schlagzeug arbeitet hart: neben ‚Transcience‚ der wohl direkteste Ohrwurm der Platte. Und dennoch: O’Brother spielen ihren Posthardcore gnadenloser denn je als massive Wall of Sound.
Vor allem die erste Hälfte der Platte baut mit Songs wie ‚Context‚ oder dem hintergründig psychotischen ‚Perilous Love‚ auf abgebremste, kantige Rhythmen und schwer walzenden Sludge-Riffs – doomiger Mathmetal ist das phasenweise, unheimlich heavy und zwischen den Zeilen gleichzeitig erstaunlich psychedelisch. Erst danach beginnen O’Brother ihr Zweitwerk zu öffnen, zu lichten – ausgerechnet, wenn die allgemeine Songlänge auch mal die 9-Minuten-Marke anvisiert.
Widerhaken werfenden Punkte um sich festzuhalten bieten O’Brother in dem fordernden Malstrom auf den ersten Blick kaum: ‚Disillusion‚ forciert weniger solch unmittelbaren Einzelsongs wie ‚Garden Window‚ es mit ‚Lo‚ oder ‚Poison!‘ tat, betrachtet das Songwriting der Band eher in der Summe des Ganzen und ist damit insgesamt deutlich weniger zu- und eingängig. Dass Mike Sapone anstelle ihrer Kumpels Andy Hull und Robert McDowell am Produzentenstuhl Platz genommen hat ist zu jeder Sekunde spürbar: das melodiösere Manchester Orchestra-Flair des Erstlings ist vollständig einem dichteren, drückenderen, dunkleren, verflochterenen Sound gewichen: ‚Disillusion‚ manifestiert kompromisslos die logische Weiterentwicklung der Band, nimmt den Faden konsequent dort auf, wo die interimistische ‚Basement Window‚-EP das Songwriting-Gewand des Debütalbums bereits vollkommen generalüberholt hatte. Ein Zweitwerk also, dass es sich erst zu erarbeiten gilt, das Zeit fordert, seine Klangwelten auch immer weitläufiger und progressiver auszubreiten beginnt.
Da kippt ‚Path of Folly‚, mit seinen gegen den Strich gebürsteten Gitarren in Schräglage aus der Zuneigung für Radiohead heraus direkt hinein in ‚Oblivion‚, das sich zwischen seinem straight gen Thrice und mittelfrühen Muse gleichermaßen rockenden Beginn und dem vor Intensität und Wut förmlich berstenden Finale eine verträumte Exkursion in eine von Merritt weihevoll ausgeschmückte Ambientkathedrale gönnt. Auch der Titeltrack driftet erst über 4 Minuten hinweg in einem grollenden, geisterhaft-atmosphärischen Postrock-Delirium, ehe O’Brother die Zügel enger ziehen und den Song zu einem unaufhaltsamen Wellenritt mit anschmiegsam-aggressiver Zerstörkraft ausbauen. ‚Absence‚ wirkt da als vermeintliche Ruhe nach dem Sturm zuerst als befreiendes Luftholen, schwingt dank Ausnahmesänger Merritt zwischen elegischer Traurigkeit und Resignation, schwillt jedoch bald zu einem bedrohlichen Unwetter aus Besessenheit und Katharsis an.
Wenn O’Brother mit dem versöhnlichen ‚Radiance‚ alle Spannungen leise und vergleichsweise harmonisch verglühen lassen, ist das vielleicht nicht das ultimative Feuerwerk, dass das phasenweise beängstigend eindringliche ‚Disillusion‚ nach knapp 54 Minuten als Schlußpunkt verdient hätte, sehr wohl aber ein nachvollziehbares Abebben eines durchgängig auf seine durchrüttelnde Gesamtdynamik achtenden, in sich nahtlos geschlossenen Gesamtkunstwerks.
Denn nichts weniger ist den zwischen den Genres-wandelnden O’Brother auch im zweiten Anlauf gelungen. Der beständig weiterwachsende Grower ‚Disillusion‚ mag seine zahlreichen Vorzüge dabei weniger in die Auslage stellen als noch ‚Garden Window‚ – und kann damit wohl auch enttäuschen, gibt sich jedoch grundsätzlich 10 Songs lang absolut ausfallfrei, klangtechnisch dazu emanzipierter und erarbeitet sich vor allem trotz bestehen bleibender Referenzen ein durchwegs eigenständigeres musikalisches Hoheitsgebiet. Weswegen ‚Disillusion‚ für sich genommen die immensen Erwartungshaltungen nach und nach zu stemmen vermag – viel wichtiger aber: auf das Gesamtschaffen der Band bezogen wie die ultimative Startrampe wirkt, auf der sich O’Brother in nächsten Sphären katapultieren können. Übertreffen können sie dort aktuell freilich nur sich selbst.
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