Nicolas Jaar – Cenizas

von am 7. April 2020 in Album

Nicolas Jaar – Cenizas

Nicolas Jaar überrascht ohne Vorlaufzeit mit seinem ersten Album unter eigenem Namen seit knapp vier Jahren – aber nicht mit dem elektronischem Ambient, der nur auf den ersten Eindruck verkopft wirken könnte: Cenizas ist eine weiche, intuitive Fantasie, ein aus der Asche wachsender Organismus.

Jaar hat die ersten Monate des (vielleicht rechnerisch nicht korrekt gesetzten, aber in der allgemeinen Wahrnehmung derart verankerten) neuen Jahrzehnts dafür genutzt, reichlich Material zu veröffentlichen, das er bis 2019 aufgenommen hatte: Für 2017-2019, das zweite Album seines Alter Ego Against All Logic, gab es zuletzt gar überschwängliche Lobeshymnen. Dass diese 2018 installierte und damals bereits sechs Jahre werkelnde  Veröffentlichungsplattform eine derartig klare Frontliebe für die puristischeren Anhänger des chilenisch-amerikanischen Musikers zieht, ist dabei so interessant wie durchaus nachvollziehbar: Man ist offenbar entweder im Team der zugänglichen, kompakten House-affinen Bretter von Against All Logic oder jenem der experimentell ausfransenden Klangwelten unter dem Jaar-Banner.
Tatsächlich ist Cenizas (spanisch für „Asche“) nun gewissermaßen auch wirklich der avantgardistische Konterpart zu 2017-2019: Anstelle der physischen Forderung steht die außerkörperliche Erfahrung, die durch das Eintauchen in ein kaum zu ergründendes, tiefenwirksames Universum voller Details der Instrospektion gefangen nimmt. Das offiziell dritte Studioalbum von Jaar ist ein mosaikförmiges Downtempo-Amalgam aus stilistischen Versatzstücken; formvollendete Fragmente dunkler Ideen ergeben eine eigenwillig manipulierte Landschaft, die als ganzheitliche Transzendenz so viele Akzente entdecken lässt, zu mehr als die Summe ihrer Teile wird.

Wenn im abgründig-entschleunigten Score von Vanish der traurig gehauchte Gesang in seiner Effekt-Tristesse einsetzt, ist das irgendwo die Anthithese zur jüngeren Zufriedenheit von James Blake; die ätherische Höhle Menysid knistert als Soundcollage und Kulisse, summt mystisch, arbeitet fein ziseliert und geschliffen in somnambuler Trance. Der Titelsong deutet eine aus Raum und Zeit gefallene Ballade an, aufgelöst im hallschweren Äther, im Loop revidierend, sie fasert im hypnotischen Groove des verhuschten Beats immer weiter aus.
Die Bläser von Agosto sind sinister – in gruseligen Zeichentrickfilmen planen undurchsichtige Gestalten in modrigen Gegenden perfide Dinge zu derartig morschen Wiegeliedern. Gocce beginnt dagegen als bedächtig schreitende Piano-Nummer, die sich irgendwann als Hintergrundmusik für das diffuseste Asia-Funk-Restaurant der Zukunft empfiehlt. Mud skizziert etwas nebulös-orientalisches mit verwaschenen Vocals, die Leidenschaft ist beschwörend, aber wie eine sediert Erinnerung an Tempelmusik von David Eugene Edwards.
Dass die Anzahl der Track verglichen mit dem vier Jahre alten Sirens im Kontext gestiegen ist, dieSonglängen kompakter und die Titel noch knapper geworden sind, ist dabei nicht unbedingt sinnbildlichfür die ästhetische Beschaffenheit: Jede Nummer hier folgt einer Linie, hält sich den Raum für Überraschungen offen, lässt Cenizas jedoch vor allem als großes Ganzes funktionieren.

Das folgt auf ein tragisches Melodram wie Vacíar, das auch die flüchtige Probe einer avantgardistischen Oper sein könnte, der schimmernde schimmernder Stimmen-Minimalismus von Sunder, bevor Hello, Chain das zerfahren homogenisierte Pendeln von verfremdeten Zeitlupen-Vocals so eingängig und intim wie kaum zu erschließen und unnahbar deutet, und Rubble gar mit dem Freejazz liebäugeln lässt – ohne dabei jemals willkürlich oder orientierungslos zu wirken. Viel mehr ist Cenizas Ausdruck einer verinnerlichten Freiheit und Selbstsicherheit, auch die Assimilierung assoziativer Elemente.
Die melancholische Klavier-Nachdenklichkeit von Garden könnte so auch von Grouper stammen, Xerox hat etwas beschwörendes, ähnlich einer Seance in Form der hypnotischen Mantra-Messen der Swans – obgleich unendlich zerbrechlicher. Dass das abschließende Faith Made of Silk als retrofuturistisch angehauchter Lounge Pop mit zitternd-frickelnden Schlagzeug in die Nacht zieht, und da weniger Paradigmenwechsel und Revolution von Innen heraus ist, als vielmehr eine wie selbstverständlich perfektionierte Handschrift darstellt, ergibt Sinn: All das ist hier ist zuerst eine Nabelschau, freilich nüchtern betrachtet eine selbstreferentielle Kulmulation des vergangenen Jahrzehnts für Jaar, in der man sich sofort auf gespenstische Weise wohl fühlt – instinktiv dann aber trotz allem auch ein (vielleicht streng genommen ohne genialistische Überwältigung auskommender) Ausblick in die Zukunft eines Visionär.

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1 Trackback

  • Nicolas Jaar - Telas - HeavyPop.at - […] seinem zweiten Ausflug unter dem Against All Logic-Banner und nur wenige Wochen nach Cenizas erforscht Jaar damit über beinahe…

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