Nick Cave and the Bad Seeds [01.11.2017: Stadthalle, Wien]

von am 3. November 2017 in Featured, Reviews

Nick Cave and the Bad Seeds [01.11.2017: Stadthalle, Wien]

Pathetische Erlösergesten, erhebende Gänsehautmomente, ausbrechende Punk-Katharsis, emotionaler Schönklang und schlussendlich ein magisches Bad in der Menge: Nick Cave und seine Bad Seeds zelebrieren Allerheiligen in der Wiener Stadthalle.

Vielleicht darf es als Zeichen der Zeit verstanden werden, dass ausgerechnet nach den beiden durchaus unkonventionell agierenden Meisterwerken Push the Sky Away (2013) und Skeleton Tree (2016) gefühltermaßen ein merklich höheres Interesse der breiten Masse an Nick Cave und seiner Band besteht, als in den zwei Jahrzehnten zuvor. Schwer zu sagen, ob dies primär einfach an einem gestiegenen Bedürfnis nach kontinuierlicher Integrität und Qualität im schnelllebigen Musikbusiness liegt; an der Tatsache, dass Cave-Konzerte immer etwas Besonderes sind,  oder ob in der Ära nach Bowie, Cohen und Co. nicht doch auch schlichtweg ein wenig das Verlangen nach dem ikonisch über den Dingen schwebendem Legendenstatus zuzuschreiben besteht.
Letztendlich sind die Beweggründe ohnedies egal: Knapp zehntausend Fans kommen an diesem Abend in die ausverkaufte Stadthalle (die soundtechnisch dann übrigens deutlich zufriedenstellender abliefern sollte, als man angesichts des wenig intimen Rahmens und der klangtechnisch suboptimal veranlagten  Locationwahl vorab befürchten konnte) gepilgert, um den Australier Nick Cave als zeitlose Lichtgestalt zu feiern – ein Gros davon wird sie knappe zweieinhalb Stunden später glückselig verlassen.
And some people say it’s just rock n‘ roll/ But it gets you right down to your soul.“ Wie wahr.

Vom eröffnenden [amazon_link id=“B0741FQ4VJ“ target=“_blank“ ]Wind River[/amazon_link]-Intro weg (nur der Vollständigkeit halber übrigens nicht First Journey, wie anderswo pflichtschuldig missmutig behauptet, sondern eher Three Seasons in Wyoming) hat das Konzert der Vorfreude folgend nämlich durchaus etwa sakrales, erhebendes, und überlebensgroßes an sich, gleicht phasenweise tatsächlich der medial oft herbeizitierten Messe. In der herrschenden Atmosphäre aus dankbar gelöster Anspannung und ehrfürchtiger Euphorie, aber natürlich auch in den inszenatorischen Gesten: Wenn die Menge Cave ausgehungert ihr Arme entgegenstreckt, und der 60 Jährige diese als messianische Mischung aus weihevollem E.T. und wanderpredigendem Exorzist sanft an den Fingerspitzen berührt und sie dann wieder kräftig schüttelt, von einem Bühnenrand zum anderen wandert oder sich in weit das dürstende Publikum lehnt.
Als der über weite Strecken besonders angriffslustig, giftig und scharfkantig brodelnde Higgs Boson Blues zur Call and Response-Interaktion umschwenkt („Can you feel my heartbeat?„), muss er eine Zuhörerin sogar halb im Scherz mahnen: „That’s sexuell harassment!

Dennoch dirigiert er das Publikum (an dieser Stelle zwar noch mit überschaubarem Erfolg) zum Backingchor und seine Band zur Verausgabung – bis nur noch Methusalem Warren Ellis den Song spartanisch an der Gitarrenfront trägt, also ausnahmsweise nicht den eskalierend-tollwütig agierenden Wahnsinns-Multiistrumentalist gibt, sondern fürsorgliche Einkehr zulässt.
Spätestens bei dieser Gelegenheit fällt dann übrigens auch auf, dass die Bad Seeds aktuell weniger aus individualistisch hervorstechenden Charakterköpfen bestehen, als viel mehr als formvollendetes Kollektiv funktionieren. Nahtlos aufeinander eingespielt, fehlerfrei harmonierend, manchmal auch nur geduldig wartend.
Die Gradwanderung zwischen alten Klassikern und aktuellem Material (und damit auch zwischen manisch gepflegtem Exzess samt Vollbeschäftigung und subtiler Zurückhaltung) gelingt so im Grunde nicht nur absolut perfekt – sie gibt Cave in der (nicht restlos kohärent verschweißten, aber darüber hinaus kaum Wünsche offen lassenden) Setlist zudem die Freiheiten, so selten wie vielleicht nie zuvor am Piano Platz nehmen zu müssen. Stattdessen hirscht er mit einer für sein Alter absolut erstaunlichen Agilität unermüdlich über die Bühne, animiert, segnet und entertained mit Grandezza – eventuell ist diese kontinuierliche Ruhelosigkeit ja die einzige Art, um ein derart tragisch geprägtes Album wie Skeleton Tree (das bis auf Rings of Saturn übrigens vollständig, aber leider nicht chronologisch oder als Klammer des restlichen Materials gespielt wird) überhaupt betouren zu können…

Eventuell meint man deswegen auch mittlerweile einen dezenten Optimismus im Titeltrack von Skeleton Tree ausmachen zu können, wie der Albumcloser da mit beinahe beschwingter Melancholie das reguläre Set rhythmisch angetaucht beendet – zumindest aber pflegen Cave und seine Musiker eine vergleichsweise versöhnliche Aufarbeitung des Materials.
Das eröffnende Skeleton Tree-Trio aus Anthrocene, (einem seine Soundscapes bis zur Schmerzgrenze hochsteuernden) Jesus Alone und Magneto führt insofern gleich eingangs vor, dass die Kompositionen des sechszehnten Studiowerkes von Cave live noch nackter, entschlackter und reduzierter inszeniert werden, mit sich selbst ein wenig mehr im Reinen wirken. Kleine Nuancen wie ein mit etwas mehr Drive akzentuierendes Schlagzeug hier oder eine dominantere Pianolinie dort sorgen für justierende Variationen. Inmitten des in leisen Wellen fließenden Girl in Amber wird sich in einer der raren Videoprojektionen eine Frau am Strand in kaum wahrzunehmender Geschwindigkeit hin zum Meer bewegen. Genau so sind auch die Arrangements der neuen Songs auch ausgelegt: andächtig und ruhig, mystisch brodelnd und doch nicht mehr zwangsläufig ohne Licht am Ende des Tunnels.
In Distant Sky lässt Ellis nach dem von Band kommenden Beitrag von Else Torp deswegen auch ein zum Sterben schönes Violinen-Intermezzo hoffnungsvoll tröstend anschwellen. The Ship Song bekommt eine besonders sehnsüchtige Einleitung und die filigrane Klavierballade Into My Arms fesselt Cave nicht nur für seine komplette Spielzeit ans Klavier, sondern findet trotz humoristischem Bruch zu Beginn zu einer unbeschreiblichen Schönheit, bevor das Publikum den Song im Chor schmeichelweich ausklingen lässt.

In diesen Phasen wirkt Cave beherrscht, doch ist er an diesem Abend generell gut drauf. Seine Stimme steht im Sound erst noch deutlicher über der Band, klingt jedoch zu jedem Zeitpunkt vital und klar, bevor er seine Stimmbänder im weiteren Verlauf der Show sogar bald noch bis zu keifenden Schreien, Jaulen, brüllenden Spuken und beschwörenden Flehen drangsalieren wird: Das postpunkig lauernde From her to Eternity gerät etwa gleich zur eruptiven Kakophonie mit psychotischer Schlagkraft, das auch von der dynamisch variablen Performance von Thomas Wydler lebt, während die wie besessen spielenden Bad Seeds kaum durchatmen.
Vom karg heulenden Polterer Tupelo geht es in direkt in die Jubilee Street („Don’t ever go there…especially you“ rät Cave einem Typen im Publikum), in der die Bad Seeds trotz nonchalant flanierenden Gang mehr als auf Platte unter Strom stehen und urplötzlich punkig am Gaspedal explodieren und den Song wild bretternd anfeuern, kein Halten mehr kennen. Unfassbar, wie rasant diese fein gekleideten Gentlemen auf der Bühne abarbeiten können.
Red Right Hand schleicht aus dem souligen Zwielicht kaum weniger ruppig in den Limbo und entpuppt sich als unberechenbar ausbrechendes Monstrum, gefährlicher und agressiver denn je, wenn auch in der Mehrzweckhalle keine Hemmungslosigkeit hervorrufend. „You’ll see him in your nightmares/ You’ll see him in your dreams….you’ll see him on your  Instagram page, motherfucker!“ greint Cave den unzähligen Smartphone-Fotografen zu und widmet ein sich selbst zerfleischendes, mitreißend hetzendes The Mercy Seat danach einem offenbar besonders traurig aussehenden Zeitgenossen in der ersten Reihe.

Stichwort Interaktion: Über allem steht an diesem Abend dennoch eine der wohl demonstrativsten in der Masse aufgehenden Zugaben der jüngeren Vergangenheit. The Weeping Song lässt Cave hebeiklatschen und wandert dazu durch das Publikum, entert den Kameraaufbau und singt inmitten der Menge, lässt einen beinahe vergessen, dass Blixa auch 14 Jahre später unersetzlich ist.
Daraufhin zieht er stattdessen eine paar Dutzend Besucher mit auf die Bühne und spielt eine besonders fiebrige Version von Stagger Lee vor einer zwar ernüchternd textunsicheren (oder einfach nur verständlicherweise ziemlich aufgeregten) Wand aus feiernden Fans, steigert sich hungrig in die zusätzliche Live-Strophe: „Then in came the Devil, he had a pitchfork in his hand/ Said, ‚Stagger Lee, I’ve come to take you down’/ Well, those were the last words that the Devil said/ Because Stag put four holes in his motherfucking head„.
Auf soviel Katharsis kann nur die Erlösung folgen: Das ambiente Push the Sky Away lässt Cave eine irritierte Besucherin beschwören, gleitet konturlos fließend in den Nachthimmel. Auch hinaus zu einem Merchstand, der neben frech teuren Tourshirts zudem obskure Skurrilitäten wie hässlichen Stoffpuppen mit dem Konterfei des nacktem Nick zu bieten hat.
Geschmackssache, wer das braucht. Essentieller ist freilich die Hingabe, mit der Cave und seine Bad Seeds ein praktisch makelloses, zutiefst erfüllendes und in seinen besten Augenblicken (wieder einmal) ein bisschen magisch anmutendes Tour-Gastspiel aufgezogen haben und die über zwei aufeinanderfolgende Discografie-Geniestreiche im Rückspiegel immens hoch geschürten Erwartungshaltungen  im Grunde mühelos erstaunlich mühelos stemmen konnte. One More time with feeling, aber sowas von.

Setlist:
Anthrocene
Jesus Alone
Magneto
Higgs Boson Blues
From Her to Eternity
Tupelo
Jubilee Street
The Ship Song
Into My Arms
Girl in Amber
I Need You
Red Right Hand
The Mercy Seat
Distant Sky
Skeleton Tree

Encore:
The Weeping Song
Stagger Lee
Push the Sky Away

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