Neptunian Maximalism – Éons
Éons ist wohl eines dieser megalomanischen Alben, nach denen sich die urhebende Band guten Gewissens trennen könnte, und dennoch ihren mystisch umworbenen Instant-Platz in den Geheimtipp-Annalen der Musikgeschichte gesichert hätte.
Immerhin schlägt das (jetzt, wo der Einstand The Conference of the Stars von vor zwei Jahren im Rückspiegel betrachtet ja wohl dezitiert eher als EP eingestuft werden muß) als Debütalbum von Neptunian Maximalism zu betrachtende Mammutwerk große Wellen der Aufmerksamkeit. Was weniger mit der hirwütigen, weitestgehend instrumental erzählten Konzeptgeschichte – hyperintelligente Elefanten bevölkern eine postapokalyptische Welt nach dem Aussterben der Menschheit – zu tun hat, als alleine mit der ausschweifenden, luxuriösen, elaborierten, extravaganten, auch meditativen Form der Platte sowie der immensen Reichweite zu tun hat, die sie dabei über 123 Minuten vermisst – als Avantgarde, Free Jazz, Drone, Prog, Experimental-Metal, Psychedelic Rock, Stoner, Noiserock, Spiritual Post Metal, Heavy Psych, World Music, Ambient, …als unklassifizierbares Stil-Amalgam.
Was das Kollektiv Neptunian Maximalism (hier: Jean Jacques Duerinckx – „Amplified saxophone barytone and sopranino“ -, Sebastien Schmit – „Drums, percussions, gongs, vocals“ – sowie Pierre Arese an „Drums, percussions“) um Mastermind Guillaume Cazalet (neben unter anderem der Produktion verantwortlich für „Amplified bass and barytone guitar, bow, sitar, flute, trumpet & vocals“ zeichnend) für einen Schub an verzweifelten Etikettierungsversuchen provoziert, ist beachtlich und auch nachvollziehbar. Das Gefühl einer orientierungslos machenden Fülle an Eindrücken will eben verortet werden. Und irgendwo stimmt wohl auch jede dieser Klassifizierungen im Ansatz – doch greift jede davon stets viel zu kurz.
Man sollte insofern nicht den Fehler machen, diese fiebrige Fusion von einer Platte in eine Kategorie pressen zu wollen, auch hinsichtlich der akkuraten Präzision und Erwartungshaltung. Dem Jazz-Puristen wird das immerhin wohl ebenso wenig Freude bereiten (nur weil etwa ein Saxofon vorkommt, ist das ja auch noch nicht automatisch ein Anwärter auf das Vermächtnis von Ornette Coleman) wie am annähernd anderen Ende des Spektrums dem Metalhead (was nicht nur an der Abstinenz knackiger Riffs liegt).
Wenn überhaupt macht es wohl eher Sinn, sich über vage Assoziationen und durchaus angebrachte Referenzen zu nähern.
Der Quasi-Titelsong Eôs – Avènement de l’Éon Evaísthitozoïque probocène flamboyant klingt entfernt, als hätten Sunn O))) das Steuer ihres Leichenwagens an Colin Stetson übergeben, der mit Grails als Begleitband der pastoralen Rezitation eines aufrecht im Sarg stehenden Mike Patton lauscht, während Iadanamada! – Homo-sensibilis se prosternant sous la lumière cryptique de proboscidea-sapiens als deliranter Noir-Traum von Earth durchgehen könnte. Lamasthu – Ensemenceuse du reigne fongique primordial & infanticides des singes du Néogène beginnt in der kakophonisches Dystopie, findet über das stockfinster aus der Tiefe rumorende Dröhnen von Absolutego mit einer theatralischen Beschwörung an der nur unwirklich aus dem Nebel auftauchenden Kanzel mit dämonischem Greinen in Ptah Sokar Osiris – Rituel de l’ouverture de la bouche dans l’Éon Archéen eine Fantasie davon, wie Kamasi Washington die Brücke zu Godspeed You! Black Emperor wagt.
Dann wieder meint man zu hören, wohin Delirium Cordia führen hätte können, wenn Goblin die Platte mit Ambrose Akinmusire aufgenommen hätten, oder welchen obskuren hypnotischen Trance-Zustand eine Orgie der Swans mit den Master Musicians of Bukkakke, Goat und den die Klingen wetzenden These New Puritans erzeugen könnte. Enūma eliš – La mondialisation ou la création du monde : Éon Protérozoïque tippt den Fuß in die Ursuppe der modulierten Elektronik aus der Perspektive des Kraut- und Space Rock, um den klerikalen Kosmos hinter der Wiedergeburt des Kilimanjaro Darkjazz Ensembles zu erforschen. Und Heliozoapolis – Les criosphinx sacrés d’Amon-Rê, protecteurs du cogito ergo sum animal skizziert im allerweitesten Sinne, wie Nusrat Fateh Ali Khan in der Kutte von Greg Anderson mit Guardian Alien und Sun Ra die mikrotonale Psychedelik aus dem Orient mit Sitar und Radiatoren interpretiert, John Coltrane und Oranssi Pazuzu im Schlepptau.
Trotz dieses Einzugsgebietes ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass selbst eingefleischte Anhänger dieser mal mehr, mal weniger (nah)verwandten Orientierungspunkte Éons dankend durchwinken könnten. Auch deswegen, weil die Platte zwar eine klare Linie und einen charakteristischen Sound im puren Eklektizismus pflegt, aber in gewisser Weise auch stets unkonkret arbeitet, szenisch und atmosphärisch und ästhetisch, jedoch nur bedingt lösungsorientiert.
Die versammelten 16 Stücke sind flächig angelegt, suchen nie zwingende Höhepunkte, keine konventionellen Spannungsbögen, keinen herausragend packenden Klimax. Am schwersten wiegt theoretisch die Abstinenz tatsächlich ikonischer Momente, die im Langzeitgedächtnis mit individuellem Kontrast herausragen – praktisch verschwimmt die Kritik jedoch vor dem inneren Auge.
Mehr noch: Einige Einzelpassagen wollen für sich alleine stehend sogar gar nicht befriedigen, sondern sind so komponiert, um erst im ganzen Erfüllung zu finden – etwa wenn Vajrabhairava Part II – The Rising ein einzelnes Solo auf ein Podest stellt, dieses praktisch aber vor allem die Entlohnung für den zurückgelegten Weg von Vajrabhairava Part I – The Summoning (Nasatanada zazas!) darstellt und den Eingang zur martialisch marschierenden Parade von Vajrabhairava Part III – The Great Wars of Quaternary Era Against Ego, bevor die Suite in den Groove findet und nicht nur hier verdeutlicht, dass Éons (konzeptuell dreigeteilt, aber inszenatorisch wenig unterschied zwischen den Segmenten machend) einfach mehr als die Summer seiner Teile, Impressionen und Einflüsse ist, zum anderen aber auch den schlüssigsten Zugang zum Werk weist.
Wo es praktisch keine helfenden Hooks in einem Fluß gibt, der seine Reibungspunkte stets in der Tiefe des Unterbewusstseins und Hintergrundes greifen lässt, nur sporadisch greifbare Momente in das Zentrum der Aufmerksamkeit geschickt werden, ist der Reigen als strukturoffener, aber nicht willkürlich improvisierter ausgerichteter Jam angelegt und braucht als solcher den willfährigen Sog: rituell und religiös-animalisch, dicht und intensiv, aufgeregt und beruhigend.
Schon von Daiitoku-myōō no ōdaiko 大威徳明王 鼓童 – l’Impact de Théia durant l’Éon Hadéen (das in einen Suspence-Albtraum scheppert und klackert und klimpert, der hinten raus doch irgendwo eine Art erlösende Abfahrt nimmt) und Nganga – Grand guérisseur magique de l’ère Probocène (grummelnd schnaufen Stammesgesänge zur Tempelmusik und rollen dann unaufhaltsam) weg holt Éons ansatzlos über die zwingende Rhythmik der Platte ab, nimmt über seine Dynamik mit und umspült als süchtig machender Rausch, der auf instinktive Weise nicht nur erstaunlich leicht zugänglich ist, sondern vielleicht auch gar nicht verkopft verstanden und analytisch filetiert werden will. Die Komplexität mag faszinieren, erstaunlicher ist aber der absolut kurzweilige Unterhaltungswert, der ohne Langeweile oder gravierend leere Meter auskommt. So funktioniert dieser Monolith von Neptunian Maximalism über seine Schönheitsfehler hinwegtragend als Score für das Kopfkino dann auch ungeachtet seiner Definition und DNA nahe der essentiellen Perfektion – mit einer Ambition, die das Potential für unmittelbare Legendenbildung hat, weil hiernach alles (nicht) gesagt zu sein scheint.
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