Massa Nera – Derramar | Querer | Borrar
Progressiver Screamo, der begeisternd (über)fordert: Mit ihren Zweitwerk Derramar | Querer | Borrar bauen Massa Nera jene Vorzüge aus, die der Vorgänger Los pensamientos de una cara palida 2017 für die Band aus New Jersey etablierte.
Obwohl Derramar | Querer | Borrar nun seit knapp einem Monat ohne Abnutzungserscheinungen läuft, kamen Massa Nera mit einem Releasetermin Anfang Dezember 2022 einfach zu spät, um noch die entsprechenden Jahrescharts zu attackieren: verdient hätten sie es absolut, doch passiert in den 50 Minuten ihres zweiten Studioalbum jenseits des Erbes von City of Caterpillar einfach zuviel, um das in derart kurzer Zeit adäquat verarbeiten zu können.
Auf einem Album, das seine ungefilterte Leidenschaft so intensiv, roh und direkt hinausschreit; das kompositorisch und instrumental so ausgefeilt in einem (von Saetia/Off Minor-Mann Steve Roche) grandios produzierten Soundbild, das voll und satt so organisch klingt, als würde man direkt neben dem Quartett im Proberaum stehen; dass irgendwo zwischen frühen La Dispute und Birds in Row ohne klassische Riffs auszukommen scheint und die Hooks in einem toll sequenzierten Strom aus purer Dynamik so schnell mitreißt, dass man kaum hinterherkommt – weswegen das Songwriting erst mehr Gewicht auf die Ästhetik als kompositionell herbeigeführt hängen bleibende Szenen zu geben scheint -; ja, auf so einem Album steht man eben lange Zeit einfach mitten drinnen in einem förmlich desorientiert machenden Wirbelsturm, bei dem es schlichtweg dauert, bis man sich tatsächlich im Geschehen zurechtfindet, die Geistesblitze verarbeitet hat und sich plötzlich von einem energischen Höhepunkt zum nächsten mitschwingen kann.
Ein Wahnsinnsprung wie in Shapeshift hilft da schon als charakteristische Wegmarkierung rund um die Mitte, wenn die Band erst Kerosin für einen im Grindcore eskalierenden Tollwut-Berserker säuft und dann nach 80 Sekunden als natürlichste Sache der Welt in die pumpende Club-Trance verfällt, als müsste man 90er-Ambient-Elektronik a la Underworld mit dem Dubstep der 00er dort zusammenbringen, wo Burial auf Steroiden psychedelische Halluzinationen auf dem Dancefloor bekommt.
Aber auch ein An Endless Cycle // I Was More Than the Weight of My Work – das erst atmosphärischen Anlauf nimmt, die Gitarren von den Drums antauchen lässt und die Vocals dahinter skandierend bis alles inbrünstig detoniert, tänzelt und flirtet mit dem Math und pendelt so verträumt schwelgend, harmonisch ruhig sinnierend von der Musik überspült, bis der Opener hinten raus mit seiner „None of this is real!“-Attacke den Knoten der Segmente und Parts so unverschämt catchy löst und hyperventilierend eskaliert – frisst sich so unerbittlich in die Hirnrinde und steht exemplarisch für die hartnäckige Griffigkeit hinter der Sturm-und-Drang-
Derramar | Querer | Borrar gleicht insofern einem unberechenbaren Kaleidoskop, dessen Zug zum mutwilligen Chaos tatsächlich ein effektives System hat. Hipócrita reibt sich gegen Strich auf, dreht sich ab der Hälfte hin hibbelig auf Links, bemst auf null ab um zu rezitieren – und schaukelt sich dort von neuen auf. Lost Faces wächst aus dem Wurzelwerk eines Feedback-Drone-Samples und in stoischen Schüben zum Heavy Noiserock, bis die Drums überfallsartig provozieren, ein Ringen aus Groove und Spitzen bieten, an dessen Klimax die tief vibrierende Nonchalance steht und Adrift scheppert wie von der Tarantel gestochen im Mathrock mit seinen oszillierende Gitarren sowie Vocals, die zwischen beherrscht und verzweifelt angepisst sind, derweil April 7th wie ei 00er-Indie-Dancepunk auf Hochspannung rockend beginnt, um dort zu landen, wo die Test Icicles auf 3 One G abgeliefert hätten.
Das ist alles spitze, doch es geht noch dichter: Mehr als zuvor bereits zündet Derramar | Querer | Borrar danach aber wie aus einem Guss, kettet seine einzelnen Songs zu einem großen Ganzen zusammen.
Das kontemplativer, nachdenklicher und ruhiger veranlagte A Faint Goodbye baut Spannungen polternd und pochend auf, gleitet impulsiv hakend über Tristeza Consume (Lowering the Blinds) in die speiende Deathgrind-Sehnsucht von Eyeless Faces und speit in Wanting (Ghosts Haunting Ghosts) als Wechselbad der Gefühle ein sinfonisches Finale mit Postrock-Tollwut, dessen beschwörende Dramatik in You Mean So Much More Than Misery to Me kammermusikalisch sinniert und in Anchored die Katharsis ein letztes Mal mit metallisch unter den Fingernägeln brennender Intensität befleht.
Das eklektische Amalgam der Band, die stets eher wie eine kaum zu bändigende Gemeinschaft klingt, in der jeder den anderen überholen zu scheinen will und trotzdem das Teamwork über allem steht, ist dabei weniger per se weniger innovativ für das Genre, als dass es wie eine ambitionierte Frischzellenkur dafür mitreißt: Spill | Want | Erase ist hungrig ohne Ende, aber nicht maßlos, und im Grunde sogar mehr, als nur ein Jahres-Genre-Highlight als aktuelle Messlatte für den Screamo. Ewig schade, diese Platte nicht rechtzeitig erfasst zu haben.
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