Low – Double Negative
Ein Vierteljahrhundert nach ihrer Gründung erfinden sich die Veteranen von Low unter tatkräftiger Unterstützung von Produzent BJ Burton als Ghost in the Machine ein gutes Stück weit neu und werfen den Slowcore/Dreampop von Double Negative dem vereinnahmenden elektronischen Fleischwolf vor. Do Androids Dream of Electric Sheep?
Zuerst ist da zwangsläufig Irritation, Verunsicherung und Ratlosigkeit: Ist der Kopfhörer, Tonabnehmer oder Lautsprecher kaputt? Die Datei defekt oder der Datenträger beschädigt? Immerhin wälzt sich Quorum mit einer rauschenden, knisternden Distortion aus den Boxen, schmiegt sich an den Noise und lässt Störgeräusche wuchern. Die wellenförmigen Synthies klingen ebenso zerhackt und verschwommen wie die gespenstisch entrückte Gesangsspur.
Double Negative beginnt jedoch nicht nur mit einem verzerrten Experiment, das den ambienten Slowcore der Band elektronisch infiltriert hat, den Produktionsstuhl zum zusätzlichen kompositorischen Element erhoben und dafür Trademarks nahezu bis zur Unkenntlichkeit zersetzt und über Versatzstücke aus Industrial sowie avantgardistischen Klanginstallationen neu verbaut hat – es führt diese Gangart auch über die gesamten 49 Minuten der Platte kompromisslos fort.
Da ist nun eine zerschossene Körperlichkeit, die das Schaffen von Ben Frost oder Tim Hecker in einen Algorithmus mit den Cocteau Twins und den Dreampop aus den Visionen von David Lynch in luzide, balladeske Streicheleinheiten mit Herz und Seele transformiert: Low klingen 2018 vollkommen anders als bisher und doch noch eindeutig nach sich, wie die Projektion einer andersweltartigen Variation ihrer selbst.
Kein Fehler im System also, sondern nach 25 Jahren und elf Platten ein frontaler Paradigmenwechsel im Sound. „Alan Sparhawk, Mimi Parker und Bassist Steve Garrington wussten, dass sie mit Produzent Burton und seiner Klangpalette noch weiter gehen wollten: Sie wollten sehen, was jemand, der, wie Sparhawk sagt, „ein Hip-Hop-Typ“ mit ihrer Musik anfangen kann. Anstatt zu Hause in Duluth, Minnesota, zu schreiben und zu proben, fuhren sie oft nach Südosten nach Eau Claire und kamen mit Skizzen und Ideen, an denen sie tagelang mit Burton arbeiteten. Band und Produzent wurden kollaborative Co-Autoren, die die Stücke aufbauten und zerlegten, bis ihr Zweck und ihre Kraft klar waren“ erklärt der Pressetext.
Double Negative lässt aus dieser Ambition heraus die hauseigenen Komfortzone nur noch als vage Erinnerung im Rückspiegel nachklingen, als würden Low Ansätze des fantastischen [amazon_link id=“B000MV8CSO“ target=“_blank“ ]Drums and Guns[/amazon_link] mit einer unbedingten Konsequenz (sowie einem mit verstörenden Weichzeichnereffekt) in die abstrakten Extreme weiterdenken; als würden sie Alben im kreativen Windschatten von Kid A wie Bon Ivers 22, A Million oder Sufjan Stevens‚ [amazon_link id=“B00469V1HM“ target=“_blank“ ]Age of Adz[/amazon_link] in unprätentiöse Gesten übersetzen.
Pop im Speziellen und konventionell strukturierte Songs im Allgemeinen lassen sich hinter all der Verzerrung deswegen auch selten wirklich konkret erkennen, wollen partout nicht wirklich greifbar werden. Wenn die zugänglichsten Stellen allerdings ausnahmsweise doch zu strahlen beginnen, dann gehören sie allerdings zum schönsten, was die vitalen Schöngeister von Low jemals geschaffen hat.
Die knisternd-wummernde Bassdrum von Dancing and Blood pulsiert etwa wie ein nervöser Herzschlag unter tausend beruhigenden Filtern, Mimi Parkers Gesang scheint aus retrofuturistisch verschollenen Sphären herüberzuwehen. Die irgendwann einsetzende Gitarrenlinie tröstet entschleunigt, alles tanzt in einer Zeitlupe, die nirgendwo hinmöchte, sondern sich in purer Ambient-Klangmalerei als reiner Resonanzkörper auflöst, der den Raum zwischen den Tönen forciert. Das herausragende Always Trying To Work It Out ist schleichender Balsam für die Ohren, eine vom Virus befallene Hymne, die [amazon_link id=“B00006I9K3″ target=“_blank“ ]Up[/amazon_link] von Peter Gabriel zu Ende programmiert. Poor Sucker wagt über seinem pluckernden Untergrund eine hypnotisierendes Duett, das sich mantrartig um eine enorme Heavyness schlängelt, während Rome (Always In The Dark) als schwerfällig walzender Ohrwurm mit nebulösem Flair verführt.
Dancing And Fire ist nicht nur unter den gegebenen Umständen von Double Negative eine regelrecht typisch gehauchte Miniatur, ein traditionell veranlagtes Stück Folk-Lagerfeuer für die einsamen Stunden, dessen gitarrenbasierte Nachdenklichkeit mit niederschmetternder Euphorie aufgeht: „It’s not the end/ It’s just the end of hope“. Kanalisieren Low ihre vorsichtige Intensität auf Double Negative, schürt sie einem in aller Stille förmlich die Kehle zu.
In der Homogenität mit seinen wattierten Reibungsflächen ist Double Negativer rund um derartig einnehmende Auftrittsflächen jedoch vor allem ein zutiefst in sich geschlossenes Album-Album voller eklektischer Assoziationen geworden, das seinen fliesende Trance am Stück am einnehmendtes entfaltet, und einzelne Passagen erst in der Gesamtperspektive restlos schlüssig erscheinen lässt.
Fly tönt beispielsweise wie eine die Zeit neu vermessende Slo Motion von Pink Floyd in die digitale Ära versetzt und mit Parkers zauberhafter Stimme entrückt, Tempest ist eine Richtung Drone pochende Nostalgie, die seine Abgründigkeit gegen eine fürsorgliche Zärtlichkeit ohne klare Konturen eintauscht und letztendlich im Limbo zerbröselt. Die filigrane Eingängigkeit von Always Up versteckt auflösende Gedanken an Talk Talk, die 80er und Schemen der eigenen Diskografie, wohingegen das weiße Rauschen The Son, The Sun als reines Bindemittel im Kontext fungiert. Die hämmernden Harmonien von Disarray entlassen dann jedoch auch relativ ratlos, weil ohne erkennbares Ziel – schließen damit jedoch den aus dem Kontinuum gefallenen Sog der Platte nur ebenso abrupt, wie Low ihn aufgestoßen haben. Auch in solchen Momenten gibt sich Double Negative jedoch genau genommen nur auf die Kennenlernphase hin abweisend, ist mit jedem Durchgang mehr eine vor intimer Nahbarkeit träumende Grazie, die sich eine wohlige Decke der Unruhe über ihr melancholisches Wesen gezogen hat.
Warum diese nahtlose – und weitestgehend formvollendete – Entwicklung hin zur elektronischen Entfremdung, die vor Low genau genommen ja schon zahlreiche andere Bands vollzogen haben, im Falle von Double Negative (auch nach dem Überraschungseffekt) nicht nur absolut inspiriert und kreativ anmutet und zudem soviel besser funktioniert als bei einem Gros der Konkurrenz, ist letztendlich allerdings ebenso schwer zu ergründen, wie die elf Tracks sich trotz ihrer immens hochgefahrenen Kontraste einer physischen Greifbarkeit entziehen. Wo die grundlegende Ausrichtung der Platte insofern vielleicht keineswegs revolutionär per se ist, ist sie spektakulär, radikal und mutig für den Kosmos von Low.
Fest steht jedenfalls, dass das Trio aus Minnesota für diesen evolutionären Schritt keine Verrenkung zeigt, sich absolut natürlich verformt und organisch mutiert, sogar keinen ausgesogenen Trends hinterherzuhinken scheint, sondern sich seinen Charakter und eine unergründliche Mystik bewahrt hat, aber die Erscheinungsform dennoch auch vollständiger transformiert hat.
Hinter einem latenten Grower von einem Gesamtkunstwerk liefern Low eben schlichtweg das adäquate Songwriting zur Produktion, in der Form und Inhalt sich gegenseitig definieren und formen, ergänzen: Hier ist all der artifizielle Überbau kein etwaige Mängel kaschierendes Mittel zum Zweck, sondern praktisch eine ansatzlose Symbiose, die aus dem Kern einer weiteren – der nunmehr zwölften – rundum überzeugenden Low-Glanztat ein tatsächlich herausforderndes, polarisierendes und letztendlich schlichtweg bezauberndes kleines Meisterstück wachsen lässt.
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