Lotte Kestner – Lost Songs
Fünf Jahre – in denen sie mit Trespassers William auch einen der schönste Songs jüngerer Vergangenheit aufgenommen hat – nach Off White bringt Anna-Lynne Williams ihr Alter Ego Lotte Kestner für den Abschluss einer Reihe an Lost Songs zurück.
Lost Songs ist seinem Namen entsprechend eine Kollektion von Songs, die in den vergangenen zehn Jahren auf der Strecke geblieben sind, nun aber – zwischen Lockdown, Elternpflichten und Tinnitus – doch noch einen runden Abschluss gefunden haben.
Die neusten Stücke der Sammlung sind dabei zwei Coversongs: Billie Eilishs All I Ever Wanted und Nada Surfs Inside of Love sind (auch aufgrund ihrer in der Popkultur verwurzelten Vertrautheit) die wohl konkretesten um Hooks schmeichelnden Kompositionen hier, doch macht Williams sie sich (wie es immer der Fall ist, wenn sie Fremdwerke interpretiert) vollends zu Eigen, legt den Kern des Materials frei, pur und natürlich, addiert eine simplizistische Verletzlichkeit, die den Nummern einen essentiellen, sogar originären Charakter verleihen, indem das universelle Element der Originale wie eine Kerze in der Finsternis aufs Podest gestellt wird.
Die beiden Coversongs fügen sich so auch nahtlos in den so unheimlich zurückgenommenen, balancierten, fragilen, ja sicher auch typischen Lotte Kestner-Trademark-Slowcore-Kontext von Lost Songs, lenken vor allem aber auch nur bedingt davon ab, welche wundervollen (und in ihrer unbedingten Intimität vielleicht auch unscheinbaren) Nummern Williams hier wieder selbst verfasst hat.
Neben ihrer tröstend umsorgenden Distanzlosigkeit funktioniert dabei nicht nur ein Colors That Did Not Exist wie ambienter Pop: Die Melodien sind fassbar, entziehen sich allerdings dennoch stets der wirklich zwingenden Griffigkeit, sind auf eine angenehm im Hintergrund plätschernde Weise nicht nebensächlich, sondern unaufdringlich. Williams verleiht dem so homogenen Lost Songs dabei bei genauerer Betrachtung variabler gestaltet in Nuancen eine größere Bandbreite, als es auf den ersten Blick scheint.
Williams umgeht eine ästhetische Gleichförmigkeit in einigen Passagen weitestgehend, die man angesichts der so fesselnden Atmosphäre und Stimmung, der emotionalen Tiefenwirkung, ohnedies gerne in Kauf nimmt, während die Einhängigkeit etwas flüchtiges und vergängliches hat, gleichzeitig aber barrierefrei in den Arm nimmt.
Dann fühlt man sich auf dezenten Synth-Orgel-Teppichen und sparsames Gitarren-Anschlägen wie in Open Ocean einsam, aber nicht alleine. Das famose Slip ist ein entwaffnendes Aushängeschild und Weaving setzt wie die Singer-Songwriter-Miniatur After Me auf Damien Jurado, und Becalmed vibriert am Klavier mit dem Folk-Vibe von Low. Kevin Long und Chris Cunningham texturieren die Lücke, Anna-Lynne nach dem Abschied von der Gitarre hinterlassen hat, doch die sanft streichelnde Harmonie von You Must Have oder das zauberhafte At the Cannons gehöre aber ganz alleine der einfühlsamen Williams, bevor Fade Awayaus eine aus der Vergangenheit wehende Anmut darstellt.
Ja, dieses Sammelsurium vereint heimliche Nummern zu einem kohärenten, heimlich balsamierenden Ganzen, das innehalten lässt, die Geschwindigkeit der Welt ausbremst und Hoffnung spendet. Auch oder gerade wenn Williams davon spricht, dass Lost Songs die letzte Musik sein könnte, die sie zumindest für eine Weile veröffentlichen wird.
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