Lies – Lies

von am 17. April 2023 in Album

Lies – Lies

Schon lange hat keine Band mehr mit ihren Promo-Fotos die Stimmung ihrer Musik derart adäquat eingefangen, wie das dem Midwest-Synthpop-Duo Lies zu ihrem selbstbetitelten Debütalbum gelungen ist.

Adrett auf der einen und quietschbunt auf der anderen sind die Bilder, eine stilvolle Grandezza zeigend und vor farbenfrohem Übermut trotzdem aus dem Rahmen fallend, abgeklärt und voller irritierender Asse im Ärmel – während sich der Sound der neuen Spielwiese der Kinsella-Cousins Mike und Nate zu gleichen Teilen so melancholisch und zurückhaltend wie überschwänglich und optimistisch gibt; locker und kontrolliert; nonchalant verspielt, aber akribisch gebastelt.
Wie schmal die Grenze zwischen Intimität und Absurdität bei Lies liegt, wird wahrscheinlich anhand zweier Szenen am deutlichsten: Im rhythmisch angelegten, mit tropikaler Percussion dunkle Keyboard-Wände heroisch hochziehenden und darunter die Gitarren verzahnenden Broken heißt es irgendwann „I’m over you/ You’re over me/ Congratulations!/ We’re both free!“ – und plötzlich trötet der Luftrüssel. Doch Slapstick ist das keiner, sonder eher Dirty Projectors-Chöre in bitter-süß verträumt. Und im ruhig fließenden Knife schwillt die subtile Theatralik an, bis sich die pompöse Melodramatik am Ende in die Vollen legt – und dazu kurzerhand Applaus aufbrandet. Die vierte Wand wackelt jedoch keineswegs, die Einsätze am Rande der selbstkasteienden Katharsis sind zu hoch, zum Lachen ist das alles in seiner Schonungslosigkeit kaum, jede Beziehung ist ein mürrischer Kampf: „I’m Jesus Christ after too much to drink/ But it’s too late in the night to reach for a knife/ Those baptized in my river, they know/ my tides rise high and the wine, it flows/ Sarah, I’m scared of losing everything/ Sarah, I know my place/ On my knees“.

Zwei besonders unterstrichene Überraschungsmomente, mit denen man so nicht unbedingt rechnen konnte, die sich aber stimmig in das Gesamtwerk – und eben auch die (optische) Ästhetik der Band – einfügen und gewissermaßen nur konsequent fortsetzen, was man von Lies erwarten konnte.
Die Hälfte ihres Debütalbums haben die Kinsella-Cousins ja schließlich bereits vielversprechend im Vorfeld als Singles veröffentlicht: das lebendig polternde, feierlich an die neugierig jubilierenden Guillemots erinnernde und vor Melancholie strahlende Blemishes; das sehnsüchtig klimpernde, bis zum Saxofon-Solo schwelgende Echoes entlang seines exemplarischen Kontrasts aus Elegie und unbeirrt voran schreitender Rhythmik mitsamt anachronistischem Drum-Wirbel; das ätherischer schimmernde Durchatmen Corbeau; den in den Darkwave verschleppten Groove von Resurrection, über einer mit Synthies texturierten American Football-Trademarks liebäugelnden Aufbruchstimmung, die seltsam gebremst wirken, bis die Streicher flimmern und das Panorama orchestral erfüllt; dem dunkel hämmernden, massiver und konventioneller in die 80er gen Muse und The Cure treibenden Wave-Pop von Camera Chimera; sowie Summer Somewhere, das eine Symbiose aus ambienten Gitarren mit cinematographen Streichern im Club anbietet.

Dass all diese Nummern – ausnahmslos Ohrwürmer, wie man weiß – aber zudem solche, die mit einer erstaunlichen Halbwertszeit ausgestattet sind! – auf dem Album gelandet sind, sorgt jedoch auch für einen ambivalenten Beigeschmack: Gerade in seiner ersten Hälfte ist Lies eher ein Stückwerk-Panorama aus Einzelsongs, das nur einen bedingt ineinander greifenden Fluß erzeugt, während zum wirklich überwältigend packenden, emotional aufwühlenden Momentum (wie es die Kinsellas gerade mit American Football abonniert haben) das letzte Quäntchen fehlt.
Vielleicht wäre es insofern gut gewesen, das im Verlauf des vergangenen halben Jahres noch nicht zu Single-Ehren gelenkte Material als separate, weniger spektakulär ausgelegte EP zu veröffentlichen, hält dieses doch nicht nur das etablierte Niveau, sondern fächert die Bandbreite des ohnedies schon sehr facettenreichen Synthpop auf homogenisierende Weise weiter auf – indem es eine Linie findet und damit fokussierter agiert.
No Shame schmiegt sich an einen Herzschlag a la Sigur Rós, erwacht als ambienter Pop im esoterischen Twin Peaks eines sphärischen, weiblich begleiteten 80er-Tagtraums, orchestral erbühend , derweil  das kontemplative Rouge Vermouth wie ein Ulver-Anachronismus im melancholischen Regen klingt. Und bevor Merely als ein fragmentarisch gebasteltes Mosaik aus kleinen Ideen, Samples sowie vagen Melodie-Fetzen den Reigen als skizzenhafter Epilog beendet, zählt das aus der innigen Acoustic-Fragilität kommende Sympathetic Eyes einen Countdown hinab, um dem Wesen der abenteuerlichen Platte folgend so tröstend erhebend wie traurig im Feuerwerk zu baden: „You wear the crown and I’m reluctant royalty/ You’re the queen of a crowd/ and I pray that no one notices me/ Sympathetic eyes/ Only after the curtains rise/ Go have a good time„.

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