Kettcar, Fortuna Ehrenfeld [21.01.2018: Orpheum, Graz]

von am 29. Januar 2018 in Featured, Reviews

Kettcar, Fortuna Ehrenfeld [21.01.2018: Orpheum, Graz]

Kettcar verleihen ihrem starken Comeback rund um Ich vs. Wir live das Tüpfelchen auf dem i: Setlist, Performance und Stimmung lassen beim Graz-GastHeimspiel der Hamburger jedenfalls das Fanherz über den Erwartungen höher schlagen.

Dass da schon vorab einiges an grundlegender Euphorie im ausverkauften (sound- und lichtshowtechnisch wie immer absolut einwandfrei abliefernden, mittlerweile aber leider mit Garderobekosten daherkommenden) Orpheum herrscht, daran lässt bereits die allgemeine Aufnahme von Fortuna Ehrenreich kaum keine Zweifel aufkommen. Der hauseigene Supportact wird nach einer knappen Stunde Spielzeit schließlich mit auffallend viel Applaus verabschiedet – weitestgehend aufrichtiger Jubel, keine reine Höflichkeitsgeste oder eine bloße Verwechslunggeschichte (obwohl man rein optisch durchaus meinen könnte, dass da Guy Garvey im Pyjama mit seinen beiden Teenkids auf der Bühne stünde).
Subjektiv kann man diese relative Begeisterung jedoch nur so bedingt nachvollziehen, wie schon all die überschwänglichen Kritiken, die Martin Bechler für sein jüngstes Studioalbum [amazon_link id=“B071JQRCWW“ target=“_blank“ ]Hey Sexy[/amazon_link] von prettyinnoise bis plattentests.de eingefahren hat.
Zwar hat die Bühnenumsetzung von Fortuna Ehrenreichs Songmaterial ihre durchwegs überzeugenden Momente – vor allem jene Phasen, wenn sich Bechler ohne Rücksicht in einen ruhigen Pathos (der wohl weniger rauchig rüberkommt, als er es gerne würde) zwischen den melancholischen Ausläufern von Westernhagen, zu Knyphausen oder Liwa suhlt, und die plätschernde Gefälligkeit des deutschen Pop auch von noch so viel Geplapper im hintersten Teil des Orpheums nicht in ihrer assoziativ wiegenden Grandezza stören lässt.
Sobald sich die harmlosen Auswüchse jedoch zu immer wieder dezidiert ironisch überspitzten Ausbrüchen hinreißen lassen (die auch mal mit bollernden Billo-Rhythmen und anachronistischen Synthies pumpen, oder entlang Enya‚artiger Schwadronierungen langweilen, die zu einem äußerst überschaubaren kreativen und ästhetischen Mehrwert neigen) verkommt der nicht unpotente Reigen allerdings zu einer wenig schmeichelhaften Karikatur seiner selbst. Dann agieren manche Songs an der Grenze zum nervenden Remmidemmi und unangenehmen Geschmacksverirrung, versuchen mit einer Abfolge aus Banalitäten und Schlagwort-Ansagen nach dem Kettcar’sche Zielpublikum zu fischen oder platzieren absurde Dada-NDW-Ideen, wo es dem fahrigen Gemisch tatsächlich an restlos zwingenden Ideen, Melodien, Hooks und tiefschürfenden Texten fehlt. Eine Einschätzung, die aber eben gefühltermaßen nur einige wenige Personen im Publikum (und darüber hinaus) der polarisierenden (Kunst)Figur Bechler gegenüber teilen.

Keine zwei Meinungen lässt dann allerdings ohnedies der restliche Abend zu: Kettcar präsentieren sich nach der relativ langen Auszeit in einer über den Erwartungen liegenden Bestform, legen eine  ausgelassene Spielfreude an den Tag, die sich merklich von der guten Stimmung anstecken lässt, die praktisch unmittelbar ab dem Zeitpunkt am Siedepunkt zu herrschen scheint, an dem Christian Hake, Erik Langer, Lars Wiebusch, Reimer Bustorff  und Markus Wiebusch – allesamt schick gewandet – die Bühne betreten.
Ein kompaktes „Kettcar. Hamburg“ genügt da als Intro und Stein des Anstoßes – was folgt sind knappe 80 Minuten Triumphzug, der mit dem Fokus auf [amazon_link id=“B074MMSK1H“ target=“_blank“ ]Ich vs. Wir[/amazon_link] 21 Songs aller fünf Studioplatten entlang einer stets kompakten Performance durchzieht, das Tempo und die Dynnamik geschickt variiert und keine Ermüdungserscheinungen zulässt.
Die Highlights geben sich jedenfalls die Klinge mit atemloser Selbstverständlichkeit in die Hand. Schon bei Trostbrücke Süd zeigt sich, wie eng die Band beisammen steht und sich klangtechnisch doch ordentlich Raum gibt, selbst der grundsätzlich etwas zu billig das gemütliche Slogan-Klischee bedienende Appendix der Nummer („Wenn du das Radio ausmachst/ Wird die Scheißmusik auch nicht besser„) zündet auf der Bühne energischer, druckvoller und auch rauer als am Tonträger in Aussicht gestellt. Kettcar-Festspiele eben, die dankbar angenommen werden.

Im unsterblich bittersüß nach vorne getriebenen Balkon Gegenüber übernimmt deswegen auch schon das Publikum lautstark als immer weiter anschwellenden Schulter zum anlehnen, Graceland breitet seine Schönheit mit knackigem Verve aus. Vor allem das beklemmend unter die Haut gehende Mahnmal Sommer ’89 (Er schnitt Löcher in den Zaun) funktioniert live noch zwingender als auf Platte, ist gehetzt, zwingend und dringend – unbedingt! Wagenburg kurbelt ordentlich, bevor sich Kettcar, „die ja jetzt Politpop sind„, ihrem ausgewiesenen „Emo-Block“ hingeben.
Das immer wieder ergreifende Meisterwerk Balu (klassisch nur auf Gesang, Gitarre und Keyboard reduziert), 48 Stunden und Rettung (als einziger Vertreter von[amazon_link id=“B00704DOK2″ target=“_blank“ ] Zwischen den Runden[/amazon_link]) toppen sich quasi am Fließband gegenseitig – da geht einem das Herz auf, stehen Nackenhaare und liegen sich einige BesucherInnen in den Armen, ohne sich in Sentimentatlitäten zu verlieren. Benzin und Kartoffelchips schickt sich insofern bereits jetzt an, zu einer der unterhaltsamsten Schmissigkeiten zukünftiger Setlisten zu werden; dass Tränengas im High-End Leben wieder ausgegraben wurde, weiß man freudig zu schätzen.

Und schon sind wieder Dreieinhalb Stunden um!“ reüssiert Wiebusch kurz vor Schluss mit Augenzwinkern. Kettcar hauen davor aber noch Klassiker (Im Taxi Weinen) und solche, die es werden wollen („Ist hier jemand über 100 Kilometer abgereist? Der Song ist für euch – Ankunftshalle„) raus, beim Closer der regulären Setlist (Deiche) frisst das bedingungslos begeisterte Publikum der unheimlich sympathisch daherkommenden Band längst aus den Händen.
Wenn Kettcar über ihren Tag in der City of Design philosophieren (Bad zur Sonne: nett, aber nicht wirklich Design; Murinsel: schon ein bisschen Design, aber altbacken) oder in der Menge auf die Suche nach unter 30 Jährigen Konzertbesuchern machen (eher deutlich in der Unterzahl übrigens), dann hat das mit seinen lausbubenhaften Humor sowie den zahlreichen kurzweiligen Schwänken im Austausch mit dem Publikum eine charismatische Nahbarkeit und Authentizität, die man so schön länger nicht mehr erleben durfte. Dass die Band sich vom Enthusiasmus der Konzertbesucher aufrichtig anstecken lässt, ist da immer wieder zu merken – der in Aussicht gestellte Crowdsurfen von  Lars Wiebusch bleibt dennoch aus.

Macht nix – nach einer kurzen Pause steht bei Auf den billigen Plätzen dennoch die ganze Galerie, das „Beinahe-Cover“ Der Tag wird kommen wird über seinen massiven Groove als bouncendes Hip Hop-Manifest demonstrativ angefordert durchgewunken. Das flotte Ich Danke der Academy und die unkaputtbare Hymne Landungsbrücken Raus erinnern dagegen mit makellosem Esprit daran, wieviele Hits diese Band doch seit ihrem Instant-Klassiker [amazon_link id=“B00006YXJR“ target=“_blank“ ]Du und wieviel von deinen Freunden[/amazon_link] angehäuft hat – vor allem aber auch, dass man Kettcar in den vergangenen fünf Jahren doch ein wenig mehr vermisst hat, als man das vielleicht insgeheim überhaupt mitbekommen hat.
Wir haben uns zusammengesetzt und überlegt, was wir noch zu sagen haben„, blickt Bustorff  auf das jüngste Studioalbum der Hamburger zurück. „Der nächste Song ist entstanden, weil ich auch mal etwas grundsätzlich positives machen wollte„, sagt er vor Den Revolver entsichern, mit dem die Band auch einmal „all den Guten da draußen“ auf die Schulter klopfen wollte. „Verdammter Hippie. Genau dagegen bin ich damals angetreten“ raunt Wiebusch lakonisch und treibt Kettcar zu einem letzten Feuerwerk, das mit intimer Intensität verglüht.
Und einfach mal die Fresse halten, ist keine Schwäche/ Nicht zu allem eine Meinung haben, keine Schwäche“ singt Wiebusch im erhebenden Finale irgendwann – aber Stille ist danach natürlich  keine Option für ein immer noch hungriges Publikum; das hierher führende Schaulaufen lässt dann eben tatsächlich nur eine Meinung zu.

 

Setlist:
Trostbrücke Süd
Balkon gegenüber
Graceland
Money Left to Burn
Sommer ’89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)
Wagenburg
Rettung
48 Stunden
Balu
Benzin und Kartoffelchips
Tränengas im High-End-Leben
Kein Außen mehr
Mannschaftsaufstellung
Im Taxi weinen
Ankunftshalle
Deiche

Encore:
Auf den billigen Plätzen
Der Tag wird kommen
Ich danke der Academy
Landungsbrücken raus

Encore 2:
Den Revolver entsichern

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