Kayo Dot – Plastic House on Base of Sky
Toby Driver will Kayo Dot offenbar keine Komfortzone gönnen. Zwei Jahre nach dem überraschend zugänglichen Vorgänger Coffins on Io entbündelt er dessen verlockende Synth/New Wave-Gangart jedenfalls nur zu genüsslich, um dessen freieRadikale zu einem schwindelerregenderen Delirium zusammenzudirigieren.
Der Vergleich zwischen Titel und Artwork des achten und neunten Studioalbums der eigenwilligen Band aus Boston lässt sich dabei recht adäquat heranziehen, um die Gemeinsamkeiten und Gegensätze der beiden Platten hervorzuheben. Beide Werke verweisen auf Götter der griechischen Mythologie (hier Io, dort – mit ein bisschen detektivischer Akronym-Arbeit Phobos) und teilen sich so auch die grundsätzliche stilistische Gangart. Doch wo Coffins on Io in gewisser Weise geerdeter, dunkler war, so funktioniert Plastic House on Base of Sky luftiger, heller, und lässt seinen Blick freigeistiger in die Ferne schweifen. Einfacher wird die Angelegenheit in dieser Verortung deswegen allerdings keineswegs: Wo der stilprägende Vorgänger vor allem im Assimilieren neuer Soundwelten seinen Pioniergeist zeigte, interpretiert Plastic House on Base of Sky die vereinnahmten Synthie-Welten nun mit der Kayo Dot seit jeher ureigenen Schonungslosigkeit im Umgang mit dem Unkonventionellen um, dreht die Progressivität in den nicht selten regelrecht diffus übereinander geschichteter erscheinenden Strukturen frappant nach oben – eine Intensivkur!
Die komplexe und herausfordernde Unklassifizierbarkeit, mit der Toby Driver seine Band auftreten lässt, hofiert dabei nunmehr wieder expliziter den Forschungsdrang und ruhelosen Geist des Jazz, entwickelt dabei ein das Coffins on Io-Universum weiterdenkendes Konstrukt, einen desorientierenden (nicht desorientierten allerdings!) Traum, der die Griffigkeit umgekehrt proportional zur beschworenen Atmosphäre hinabregelt. Wo vor zwei Jahren das überragende The Mortality Of Doves stellvertrenden entgegenkommend als Gateway Willkommen hieß, funktioniert der Zugang diesmal wieder spiritueller im homogenen Ganzen, das diesmal (ohne derart demonstrative Übersongs) keine Schwankungen mehr zulässt: Irgendwann ist man per se mitten drinnen angekommen in diesem Bewusstseinsstrom, geht im berauschenden Gesamtwerk auf.
Plastic House on Base of Sky entwickelt sich so zu einem intuitiven Strom. All seine Substanzen fließen, verschwimmen in den schier unendlichen (und von zahlreichen Händen erschaffenen) Texturen, unter denen stets unterschwellige Harmonien zu wuchern scheinen: Keine davon wirklich greifbar oder zwingend, geschweige denn rational nachvollziehbar. Die Gedankengänge des Toby Driver bleiben unergründlich, ziehen jedoch immer weiter mit einer hypnotischen Faszination an. Man kann sich auch in dieses Kaleidoskop wieder rettungslos verlieren – mehr noch sogar als beim regelrecht schmissig auftretenden Coffins on Io (vielleicht ist die Schwesterplatte ohnedies die andere Seite der selben Medaille?) aber mit dem allgegenwärtigen, beunruhigenden überwältigenden Gedanken, diesmal ohne konkretes Ziel vor Augen zu transzendieren. Doch eben: irgendwann ist das Suchtpotential auch hier entfaltet.
Wenn Amalia’s Theme mit verquerem Drumcomputerbeat die Synthies zu schichten beginnt und sich der sphärisch entrückte Gesang von Driver mit andersweltartiger Behutsamkeit über das retrofuturistische Gewächs legt, schickt der Bandleader den Opener justament dann auch schon wieder über die Kippe, wenn sich die Soundscape-Illusion anschickt tendenziell in die Fußstapfen von Bowie’s Blackstar treten zu können: Jedes installierte Element entwickelt sich augenscheinlich mit einer mutmaßlichen Willkür, plötzlich umspült der 80er schwangere Future-„avant-garde sci-fi goth„-Sound, deutlich komplizierter und zerschossener inszeniert, mutiger.
Driver lässt sich offenbar unbeeindruckt davon herzlich flehend fallen, hin zum Zaubertrick, der all das Gewirr hier entlang seiner eigenen Bezugspunkte Sinn ergeben lässt. Dass sich der Keyboardbass und die gefinkelt rhythmisierenden Drumsequenzen irgendwann ohne die anleitende Stimme Drivers auf Reisen begeben, ist da im Kontext also durchaus stimmig. All the Pain in All the Wide World setzt diese Odyssee durch strukturbefreite Klangwelten insofern nahtlos fort. Spannungsbögen werden im Experimentalumfeld nicht mit Antworten aufgelöst, sondern mit noch mehr Fragen – ein undurchschaubarer Exzess beginnt, der die Unhandlichkeit der Platte bereits früh auf die Spitze treibt.
Danach nähern sich Kayo Dot wieder deutlicher greifbaren Sphären. In Magnetism rifft gar eine der selten an die Oberfläche gespülten Gitarren im Konstrukt, virtuos in den Orbit starrend, doch die Synthies wabbern schon bald immer fordernder um das Rhythmusgefühl. Das Szenario wird hektisch, aber Driver lässt sich nicht aus Ruhe bringen: Ein bipolar flimmerndes Stück, das noch am ehesten als Rock-Annäherung durchgeht. Rings of Earth flirtet dann schon beinahe mit der Idee sich wieder dem Wave Pop anzunähern, dreht sogar Hooks durch den Space-Filter – doch bevor man sich versieht, ist man bereits auf einem neuerlichen Forschungstrip weit draußen.
Erst der Schlußpunkt Brittle Urchin führt dann vor, welche unwirkliche Schönheit Kayo Dot doch erschaffen können, wenn sie es nur wollen: Der Closer addiert zu einem melancholischen Gitarrengeplänkel einen röhrenden Unterbau und entlässt damit regelrecht versöhnlich aus einer den Schwierigkeitsgrad wieder nach oben schraubenden Platte. Doch das Update gelingt, wenn es auch viel Zeit verlangt: Toby Driver ringt dem bereits so formvollendet erschlossen erschienenen Soundkosmos mit einer beeindruckenden Selbstverständlichkeit weitere Facetten ab, perfektioniert die Gangart mit einem noch runderen Gesamtwerk – und positioniert Kayo Dot damit unter der Ägide von Bowie oder Dead Can Dance weitestgehdn außerhalb jeder Referenzwerte außer der eigenen alleine auf weiter Flur.
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