Kanye West – The Life of Pablo
Eine weniger chaotische, publicityperfektioniert impulsive Veröffentlichungsgeschichte hätte man sich kaum ausdenken können; und nichts hätte optimaler zum wahnwitzigen ‚The Life of Pablo‚ gepasst. Stand der Dinge: Unzählige Terminverschiebungen, Artwork- und Titelwechsel, gecancelte Vorabsongs, eine an Absurdität kaum zu überbietende Releaseparty und aufgesetzte Twitterproduktionen später ist das siebente Kanye West-Werk da – zumindest in seiner vorübergehenden Form -, aber entgegen aller Ankündigungen eher nicht das beste Album aller Zeiten.
Denn wenn einen die wankelmütige Vorlaufzeit zu ‚The Life of Pablo‚ etwas gelehrt hat, dann dass der Nachfolger zu ‚Yeezus‚ ein im steten Wandel begriffener, vielleicht sogar weiterhin unvollendeter Work in Progress ist: West doktert auch nach dem tatsächlichen Release an dem anvisierten Tidal-Zugpferd munter weiter, fixt, berichtigt, aktualisiert.
Und im Grunde ist genau dies der faszinierendste, vielleicht wirklich geniale Kniff an ‚The Life of Pablo‘. Eventuell hat West hier auf Metaebene tatsächlich das prolongierte Meisterwerk geschaffen, weil sich ‚The Life of Pablo‚ über die Produktionsphasen-Konventionen herkömmlicher Alben hinwegsetzt, den seit jeher angestammten Entstehungsweg von Aufnahmen hin zur finalen Veröffentlichung ignoriert, in unregelmäßigen Abständen Updates bietet und damit auf die Möglichkeiten des Web 2.0 und Streamingportalen in Augenblicken reagieren könnte, wie es physischen Tonträgern in ihrer Abgeschlossenheit nicht möglich ist.
Und natürlich: Auch wenn ‚The Life of Pablo‚ nun mancherorts gerade für seinen katastrophalen Hit-or-Miss-Charakter über den grünen Klee gelobt wird (ein anderer erstaunlicher Aspekt an diesem Album: ist selbst ein „complete mess“ wie diese Unfallkarambolage von Grund auf ein Geniestreich, alleine wegen seines Schöpfers, weil dieser „nunmal zu gut zum Scheitern“ ist?), macht das die zwischen Highlights und Ausfällen unausgegoren und zerfahren pendelnde Songsammlung ‚The Life of Pablo‚ nicht per se auch wirklich zu einem gelungenen Album, zu qualitativ durchgängig hochwertiger Musik an sich. Womit man schon beim eigentlich springenden Punkt wäre, der angesichts der gegebenen Umstände nur zu leicht in den Hintergrund treten kann: was taugen denn nun die (viel zu vielen) 18 aufgefahrenen Songs (wenn auch nur in der gegenwärtigen Form und Betrachtung) denn nun?
Nun: ‚Ultralight Beam‚ eröffnet bärenstark – und löst dazu auch quasi im Alleingang mit wellenförmig aufbegehrendem Chor, reduzierten Lagerhallen-Beats und gurgelndem Jazzbass das Versprechen von einer Hinwendung zum Soul und Gospel ein. Wenn überhaupt sind dies jedoch die einzigen ansatzweise innovativen, vage revolutionären Erweiterungen in Kanye’s Sound, entpuppt sich das rücksichtslose ‚The Life of Pablo‚ in weiterer Folge doch wie eine sprunghafte Melange, die zu gleichen Teilen Elemente aus allen bisherigen Studioalben des 38 Jährigen Amerikaners aufgreift, damit phasenweise gar wie eine zitierende Werkschau anmutet und eben erstmals nicht für die Zukunft plant, sondern das Momentum in der Aufarbeitung aller Phasen der Vergangenheit nutzt.
‚Famous‚ lehnt sich etwa mit catchy wummernden Mitternachts-R&B-Pop und einer kaum zu ertragenden Rihanna im exaltierten Ohrenkrebs-Modus an ‚My Beatiful Dark Twisted Fantasy‚ an, die erst dann Sinn macht, wenn Swizz Beatz ihren Part übernimmt und die meisterhaften Samples von ‚Do What You Gotta Do‚ und ‚Bam Bam‚ einen geschmeidigen Ohrwurm der Extraklasse zaubern, bevor ‚Feedback‚ den Minimalismus und die Noise-Zuneigung von ‚Yeezus‚ reaktivieren. Das betörende ‚Wolves‚ klingt dagegen wie eine Hommage an Jessica Curry’s ätherische Geistermusik und ‚808s & Heartbreaks‚. Dass im Dancehall von ‚Pt.2‚ die altbekannten Vocoderstimmen in die Mitte drängen: Ehrensache.
Nach seiner relativ fokussiert verschweißten Sprunghaftigkeit im Eingangsteil verzettelt sich ‚The Life of Pablo‚ aber recht bald in einer ziellosen Beliebigkeit und beginnt zu dümpeln, sobald das überlange Interlude ‚Low Lights‚ der Platte seinen bis dahin zelebrierten dynamischen Fluss nimmt. Bis auf das ironische Zwischenspiel ‚I Love Kanye‚, das charmant leichtfüßig mit der öffentlichen Wahrnehmung spielt, eiert ‚The Life of Pablo‚ danach nämlich lange Zeit rund um potentielle Ausschussware. Dass mit ‚FML‚ ein bis zur Selbstaufgabe reduzierter grandioser Lovesong folgt, der über das soulige Feature von The Weeknd langsam in Gang kommt, revidiert die Qualitätskurve folgend zwar wieder nach oben, doch erreicht das Album als Ganzes danach aber keine der Höhen mehr, die man Kanye ansonsten zutraut.
Bis zum Schlußpart rund um ‚30 Hours‚ (André Benjamin lässt den Song entspannt dahinlaufen) und ‚No More Parties in LA‘ (tolles Oldschool-Flair ala Mos Def mit einem wie immer ablieferndenden Kendrick Lamar, aber auch ohne zündende Ideen und wie alle anderen vermeintlichen Bonus Tracks zu lang ausgefallen) gibt es demnach viel Sparflamme, Autopilot und kaum spannendes oder funkensprühendes Material, das es geschafft hätte sich auf den Vorgängeralben durchzusetzen. Wie viel besser ‚The Life of Pablo‚ mit einer strenger selektierten, kürzeren Trackliste doch hätte werden können!
Vielleicht ist dies aber eben wirklich nicht der springende Punkt hier, arbeitet Kanye doch alleine textlich an der Vervollkommnung seiner Existenz als polarisierende Kunstfigur. Und diesbezüglich trumpft ‚The Life of Pablo‚ immer wieder auf. Wenn Kanye sich an alten Konfrontationen auskotzt („I feel like me and Taylor might still have sex/ Why? I made that bitch famous„), sich entgegen seiner Schulden am eigenen Reichtum und den Ex-Sexvehikeln seiner Kindesmutter aufgeilt („I bet me and Ray J would be friends/If we ain’t love the same bitch/ Yeah, he might have hit it first/Only problem is I’m rich„), den Celebrity-Lifestyle-Irrsinn in ungeschönter Konsequenz artikuliert („Now if I fuck this model/And she just bleached her asshole/ And I get bleach on my T-Shirt/I’mma feel like an asshole“ tönt die Vocoder-Stimme bis zum Street-Fighter-Sample) oder mit spitzer Zunge Gift spritzt („My ex said she gave me the best years of her life/ Seen a recent picture of her and I guess she was right„), dann ist ‚The Life of Pablo‚ schlichtweg so herrlich ungezwungen idiotisch spaßig, wie es stilistisch abwechslungsreich ist und damit einen latenten Unterhaltungswert forciert. Oder anders: Das wahrscheinlich zweitschwächste Kanye-Album ist eine Zumutung in Sachen Struktur, Kohärenz und weitsichtiger Kunstfertigkeit, aber vielleicht genau dadurch auch sein bisher kurzweiligstes und auf lange Sicht (je nachdem wie lange und radikal Kanye sein Ding in puncto Aktualisierungswahn durchzieht) eventuell gar sein reizvollstes.
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