Ioanna Gika – Thalassa

von am 19. April 2019 in Album, Heavy Rotation

Ioanna Gika – Thalassa

Man kommt kaum hinterher, was auf diesem Traum von einem Pop-Album so alles passiert: Ioanna Gika positioniert sich mit ihrem lange hinausgezögerten Solo-Debüt Thalassa als ambitionierte Eklektikerin von unwirklicher, enigmatischer Formvollendung.

Die Amerikanerin mit griechischen Wurzeln ist wahrlich kein Neuling im der Musikwelt, auch wenn sie nun mit ihrem Erstling irgendwo aus dem Nichts zu kommen scheint: 2012 fand sich ihre entrückte Zwergenballade Gone auf dem Soundtrack zu Snow White and the Huntsman, bevor sie sich mit Atticus Ross‚ Bruder Leopold zu IO Echo zusammenschloss – ein Album, diverse Songbeiträge und Singles später verschwand die um Kooperationen (unter anderem mit The Drums, Tokimonsta, Ramin Djawadi oder Harmony Korine) nicht verlegene Gika trotz prominenter Erwähnungen und Supportrollen (für Deafheaven bis DIIV) jedoch wieder vermeintlich in der Versenkung.
Aus dieser taucht sie nun jedoch plötzlich mit einem eigenen Studioalbum in der Tasche auf, bleibt aber dennoch ein Mysterium, selbst wenn die 25 Jährige prägende Hintergründe hinter ihrem ersten Alleingang kryptisch-ausführlich erläutert: „A series of deaths drew me home to Greece. The city of my childhood memories was in disrepair. I drove past painted swastikas towards burial sites. I said goodbyes and grieved for those I didn’t get to say goodbye to.

Written in Greece during a period of familial grief and romantic dissolution, Thalassa documents an unanchored soul facing nature at its most unforgiving. Thalassa is about going through change that is unwanted yet unstoppable. It is a document of the dread, the adrenaline, and the surrender in the moments when you realize the only way to survive is to brace yourself and go through.
Diese  andersweltartige Unergründlichkeit lässt die in der Realität fußende Musik, deren (persönliche und politische) Texte sowie (selbst bewerkstelligte) Produktion, nun für sich sprechen, trifft als sachliche Analyse den Kern des surrealistischen Wesen eines Albums, benannt nach einer Meeresgöttin der griechischen Mythologie, während Jake Caster dazu ohne Widerspruch als Pan in die Wellen steigt.
Thalassa ist der entsprechende Husarenritt zu dieser im Spannungsfeld von Wirklichkeit und Mythologie positionierten Geschichte, die zwischen Ethereal Wave und Elektronik, zwischen progressiv strukturierten Baroque-, Art-, Dream und Synth Pop permanent sein Wesen ändert, überall sein will und dennoch präzise Präsenz zeigt; nicht willkürlich wirkt, sondern vollkommen organisch auf eine stilistisch und inszenatorisch so breite, wandelbare Basis gebaut ist, wie fünf vergleichbare Alben zusammen. Gika macht keinen Hehl aus den permanent klar erkennbaren Einflüssen von Björk, Julia Holter oder Kate Bush. Doch wie eine postmoderne Alchimisten assimiliert, adaptiert und verbindet sie altbekannte Elemente, setzt sie in neue Kontexte und modifiziert damit gewissermaßen ihr eigenes anachronistisch-klassizistisches Relikt.

Wo dieses ambitionierte, niemals sesshaft werden wollende Amalgam nur zu leicht unausgegoren, überladen oder unentschlossen hätte anmuten können, ist gerade das Gegenteil der Fall – die im Ganzen erstaunlich kohärente Gesamtwirkung und stimmige Geschlossenheit beeindrucken. Mehr noch gibt Thalassa in seiner demonstrativen Kunstfertigkeit einen intimen Einblick auf das Wesen von Gika, ist ebensowenig die Beschränkung auf reine Kopierfähigkeiten, wie es (ganz im Gegensatz zu IO Echo und deren gestelzte Asia-Gimmicks) zu prätentiöser Verkopftheit neigen würde.
Es ist viel eher eine der herausragenden Stärken dieser gefühlt aus dem Nichts kommenden Platte, eine an sich so inhomogene, variable und unbeständigen Veranlagung in einen schlüssigen Rahmen zu setzen und das eklektische Wesen mit Charisma zu versehen: Thalassa ist gleichzeitig eine Ansammlung von Einzelsongs, wie es über seinen unverbindlich übergeordneten Handlung Zusammenhalt zeigt.
Die noch größere ist aber das Songwriting der zehn versammelten Nummern, die so viele zum Staunen verleitende Szenen bündeln, dass man kaum aus dem Schwärmen herauskommen will. Denn auch beim zehnten Durchgang gibt es auf Thalassa noch neues zu entdecken, bevor man beim zwanzigsten Lauf vollends sein Herz in diesen tiefgründigen Grower und all seine emotionale Intensität verliert.

Roseate pflegt ein aus der Zeit gefallenes Harfenspiel, das über seinen steten Rhythmuswandel mutiert: Erst episch pochend, drückt die Nummer irgendwann, holt verspielt twistend zum Shuffle aus, pumpt aber plötzlich trocken von der Leine ausgelassen in den Club. Dahinter steckt zwar keine Kalkulation, sondern eine Anmut mit viel Haltung und Eleganz, die in ihrer esoterischen Dramatik immer schneller und dinglicher ausstrahlt, aber doch ein wenig zu viel Makellosigkeit, um intuitiven Enthusiasmus zu erzeugend. So bleibt gewissermaßen eine staunende Distanz, wo es eigentlich Kleinigkeiten wie diese sind, die Thalassa den Schritt in die zweithöchste Wertungsstufe versagen müssten – jedoch der faszinierende Newcomer-Bonus zum Tragen kommt.
Zumal das schier überwältigende Out of Focus unmittelbar danach mit getragegnem Piano und nervösen, jazzig-frickelnd programmierten Radiohead-Beats beginnt, die zu einem umwerfend sehnsüchtigen, gar engelgsgleichen Refrain schwimmen und in einem heroischen Panorama aufgehen. Der Titelsongs übernimmt den Fluss dagegen als minimalistisches Intermezzo wie aus dem Portfolio von Aviary – ein unwirkliches Märchen mit ungemütlicher Schlagseite, das sein sphärisches Wesen hinten raus in einen mechanisch abgewinkelten, schnaufenden Beat verfallen lässt.

Diesen greift Messanger mit nervös treibender Hi-Hat über elegischen Gesten auf, die akribischen Beats atmen und prusten kultisch, tanzen in einen Streicherrausch von jubilierend verwaschener Island-Transzendenz, bevor Swan anmutet, als hätte James Blake eine Downbeat-Ballade mit Lana Del Rey aufgenommen. Weathervane wandelt in den Hohheitsgebieten von Bat for Lashes – der filigran und vorsichtig gehauchte Gesang steht im Gänsehaut-Kontrast mit den erhebenden, mächtig triumphierenden Bläsern.
Im zaghaften New Geometry nimmt hingegen eine Poprock-Hook an fahrt auf, die in einem greifbareren Gewand heimelige Stadiobesucher zu klatschenden Publikumsinteraktionen mitnehmen könnte, doch Gika stampft behutsam zu einem psychedelisch solierenden Part – was anderswo Arena wäre, ist hier also ein Fiebertraum. Die abgedämpfte Percussion und das andersweltartiges Instrumentarium von No Matter What finden deswegen auch einen erhebenden, beschwörenden Refrain von schmerzhafter flehender Vergänglichkeit, wären eventuell der ideale Schlusspunkt gewesen. Doch erst die kristalline Behutsamkeit von Drifting trägt mit den Ahnungen sakraler Chöre so wunderschön in eine versöhnliche Hoffnung hinaus

Muss man etwas kritisieren, dann, dass der Spannungsbogen von Thalassa durch das nicht schlechte, aber zumindest definitiv deplatzierte Ammonite kurz vor Schluss einen minimalen Bruch in der generell weniger überragenden zweiten Hälfte bekommt. Die dystopische Verneigung vor Beth Gibbons und Portishead mit seinem ätherischen Zugang zum zartbesaiteten Industrial fügt sich nämlich zu hart in die eigentlich so verwundbar weihevolle, stille Finalphase der Platte ein und suggeriert, dass die letzten Augenblicke ohne eigentliche Schwäche doch nicht gänzlich das bis dahin installierte Niveau halten könnten. Und das, obwohl Thalassa generell zwar punktuellen Trost spendet, allerdings keinen definitiven Climax in der Katharsis erzwingt.
Dass Gika den Charakter ihrer Songs auch eklatant durch das Auftreten der Einfluss-bündelnden, extrem akribisch-detailreichen Produktion definiert, sorgt zudem dafür, dass Thalassa eher Eklektizismus zur Kunstform erhebt, als originär individuell zu agieren. Ob man sich deswegen primär in die Assoziationen oder tatsächlich die aufgefahrene Substanz von Gika selbst verliebt, ist oft ebenso unklar, wie es vorerst dahingestellt sei, ob man ihre Songs (im Gegensatz zu etwa Kompositionen der meisten Referenzen) in egal welchem soundtechnischen Outfit fraglos erkennen würde.
Denn ein Strick lässt sich daraus ohnedies nicht drehen. Irgendwo passen derartig irritierende Erscheinungen sogar nur zu perfekt zum Wesen von Ioanna Gika, die nach diesen zauberhaften, herrlich kompakt gehaltenen 35 Minuten kaum weniger rätselhaft und im wahrsten Sinne unfassbar bleibt, als zuvor. Für die Zukunft wird sie dennoch mit der Bürde leben müssen, nun unter einer gewissen Erwartungshaltung mit Argusausgen beobachtet zu werden. Immerhin ist Thalassa ein Pop-Juwel von erst überfordernder, dann unendlich belohnender Schönheit geworden, an dem sich (2019 und darüber hinaus) wohl bis auf weiteres nicht nur seine Schöpferin messen lassen muss.


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