Glassjaw – Material Control
In den eineinhalb Dekaden seit den Genre-Klassikern Everything You Ever Wanted to Know About Silence und Worship and Tribute haben Glassjaw ein ausgiebiges Bad im psychotischen Noise genommen und dabei einen dicken Bass-Fetisch entwickelt. Das lässt Material Control im neuen Soundgewand erst an die beiden Vorgänger anknüpfen, nur um sich danach überraschend agressiv im Kreis zu drehen.
Da wollten Daryl Palumbo (wenige Monate nach Color Film) und Justin Beck nach all den Jahren Wartezeit nun eigentlich aus dem Hinterhalt kommen und ihr hauseigenes Chinese Democracy praktisch aus dem Nichts feuernd an treue Fans per Merch Direct-Flexidisc-Postkarte schicken – und dann leakt ausgerechnet die eigene Plattenfirma im Verbund mit Amazon die Infos zum kaum noch für möglich gehaltenen Full Lenght-Comeback versehentlich. Das verdirbt dem Post Hardcore-Duo aus Long Island die Überraschung, aber nicht den Humor, weil es den Albumtitel einer seit jeher auf Kontrolle bedachten Kombo herrlich ad absurdum führt.
Kurioserweise ist diese torpedierte Veröffentlichungsweise irgendwo sogar tatsächlich eine, die nur zu gut zum paradoxen Charakter von Material Control zu passen scheint. Einer Platte, die seine beiden Vorgängeralben nach 15 Jahren demonstrativ nicht aufwärmen möchte und deswegen explizit Veränderungen zeigt, dabei jedoch trotzdem immer wieder voller kleiner Déjà-vus steckt; die in der Gesamtstruktur seltsam zerschossen und unausgegoren wirkt, den Finger im eigenen Sud kochend immer fester in die Wunde drückt, als sich tatsächlich in eine Richtung zu entwickeln – allerdings gerade am Stück auch eine unfassbare Energie in ihrem nahtlos mitreißenden Fluss erzeugt.
Was zu einem Gutteil am durchaus irritierend ambivalenten Soundgewand von Material Control liegt. Dieses ist verdammt laut und wuchtig ausgefallen, massig verwaschen und ohne explizite Klarheit ausgestattet, forciert eine enorm dicht schiebende Heavyness, die so ähnlich durchaus an die massiv gebauten Kraftakte der Deftones denken lässt. Die Inszenierung hat kein Interesse an Details, lässt den gewohnt zwingend abliefernden Palumbo bisweilen sogar absaufen, hebt keine Nuancen hervor und lässt Material Control auf Dauer auch zu einem undifferenzierten Sperrfeuer verkommen. Alles Entscheidungen, die den emotionalen Zugang zu den Kompositionen erschweren, aber damit zu tun haben, dass Glassjaw ihr Comeback ästhetisch näher am manischen Noiserock und der eigenen Frühphase rund um Kiss Kiss Bang Bang sehen, als am screamoinfizierten Post Hardcore der frühen 2000er.
Deswegen rückt die Produktion den von Justin Beck diesmal gleich selbst aufgenommenen Bass (die 2015 eingestiegene neue Rhythmusgruppe um Travis Sykes und Chad Hasty spielt übrigens kaum eine Rolle auf dem Album) immer wieder zur unpackbar dominanten Kraft in die Mitte und vor die eskalierenden Gitarren: Material Control rumort und wummert und drückt unheimlich – im entschleunigt und entschlackt mit Dub-Flair beginnenden Strange Hours tappt der stoisch aus der Monotonie aufgefächerte Basslauf sogar mit einer regelrecht stupide-markanten Sturheit über eine ansonsten nachdenklich gesponnene Beinahe-Ballade, die wie ein elegisch driftender Fiebertraum fleht.
Dass für die Drumparts wiederum vordergründig jene Spuren herhalten, die Billy Rymer (The Dillinger Escape Plan) dereinst spendierte, würde man ohne Verifizierung kaum glauben wollen: Im Mix halten sie verhältnismäßig leise inszeniert im Hintergrund das herrschende Krawall-Chaos zusammen, Rymer spielt meist äußerst zweckmäßig im Dienste der Songs und hält sich zurück. Seine hauptberufliche Beschäftigung scheint dennoch durch. Vor allem etwa, wenn das überragende Golgotha mathcorelastig brettert, über blinkende Gitarren und mystische Choransätze treibt, wie das auch Rymers aktueller Stammband gefallen würde. Weil Beck seine Gitarren wie besessen drangsalieren lässt, während Palumbo hirnwütig im Mahlstrom steht, bevor sich der Song ausbremst, mit fiebrigen Stimmeffekten hypnotisiert und ein Solo nachtritt, das wie ein Alptraum aus Tausendundeinernacht klingt – Glassjaw hämmern zu diesem Zeitpunkt mit ihrem Drittwerk bereits herrliche Kopfschmerzen ein.
Ganz generell entpuppt sich das Songwriting auf Material Control schließlich als erstaunlich aggressiv und energiegeladen, konzentriert vor allem einen aufgestauten Druck und lässt den Melodien nur eine untergeordnete Rolle zukommen. Von der vergleichsweise eingängigen Ausrichtung von Worship and Tribut sind insofern höchstens Spurenelemente vorhanden: Das prototypisch für den zweiten Platz in der Trackliste ausgelegte Shira (ein konzipierter Instant-Hit) lauert erst und tackert dann brutal, rifft extrem kompakt und schabt sich trotzdem für dissonanten Noise auf, lüftet seine Siberian Kiss-DNA aber mit dem klassisch geschriebenen Refrain für überdeutliche Cosmopolitan Blood Loss-Reminiszenzen.
Dass der Chorus ein klein wenig zu erschöpfend repetiert wird, ist ein zu vernachlässigender Schönheitsfehler der Eingangsphase von Material Control – auch die zwei Jahre alte erste Single New White Extremity eröffnet als tackende Walze mit shiftendem Tempo schließlich nach ähnlichem Muster: Glassjaw attackieren hysterisch aufgekratzt und innerlich brodelnd, Palumbo legt sich beschwörend lasziv in bereitwillig wiederholte Refrain-Muster. Eine Methoditik, die hier einen Spagat in der Diskrepanz zu schaffen versucht: Gleichzeitig bis zu einem gewissen Grad auf Nummer Sicher zu gehen und alte Fans an Bord zu holen, aber trotzdem den veränderten Tonfall von Material Control unmittelbar zu etablieren.
Freilich hätten es sich Beck und Palumbo diesbezüglich deutlich einfacher machen können, indem sie das furiose You Think You’re (John Fucking Lennon) vorne weg geschossen hätten – gerade auch, weil der praktisch klassische Paradeopener für die Band auf Our Color Green ein wenig verschenkt war. Aber eben: Wo die rhythmusfixierte Tanzbarkeit des präzisen Coloring Book sich knappe sechs Jahre später eher als ästhetischer Impulsgeber für die Basslastigkeit von Material Control entpuppt, ist das prägendere Our Color Green selbst dann kein unbedingter Wegweiser für die Version von Glassjaw im Jahr 2017 gewesen, wenn sich der Titeltrack als pochendes Industrial-Skellet wie ein unkonkret bleibendes Intro zum feuerwerkartigen Blinken von All Good Junkies Go to Heaven anfühlt. Material Control ist trotz einiger Querverweise auf die Vergangenheit deklariert neues Kapitel, das die Nostalgie-Karte in einer gewissen Verweigerungshaltung ausspart.
Ganz generell ist Material Control nach dem giftig und konzentriert prügelnden Citizen auf eine seltsam unökonomische Art und Weise eine effektiv und effizient arbeitende Platte geworden. Bei einer Gesamtspielzeit von gerade einmal 37 Minuten gehört etwa (gerade auch nach einer derartig langen Wartezeit) schon einiges an Chuzpe dazu, gleich zwei Interludes in die Trackliste einzuführen, doch funktioniert gerade die Stafette ab Bastille Day wie ein progressiver Leviathan, der als langes Ganzes immer wieder Ideen und Motive umschichtet.
Was in Bastille Day als perkussives Aufwärmen mit Tablas und Harmonica im Weltmusik-Windschatten von OM nach und nach die Muskeln anspannt, ist im allgemeinen Kontext ein Durchatmen, im speziellen Ausschnitt aber vor allem die Einleitung für Pompeii, eine gegen den Strich gebürstete Eruption mit Mind Over Matter-Sänger George Reynolds. Glassjaw sind hier im Ansatz eigentlich nicht so weit von dem entfernt, was sie auf ihren bisherigen zwei Studioalben taten – es fühlt sich nur viel ungemütlicher an, weil sich die Band an sich selbst aufreibt und das Material konsequent zusammenschiebt, anstatt es wachsen zu lassen. Der Fokus ist damit intensiv, die Perspektiven jedoch limitierter als bisher. Der Climax folgt insofern erst, nachdem Bibleland 6 in einer psychedelisch schimmernden Hysterie aufgeht.
Das punkig nach vorne preschende und sogar optimistisch bouncende Closer kommt aus dieser Ausgangslage einem schmissigen Fanpleaser näher, als es Glassjaw nach der Eingangsphase allgemein wollen – gerade auch, dass die Produktion sich hier mehr Raum gönnt und Palumbos Vocals hervorstechen lässt, lichtet die erschlagende Verdichtung der Platte. In My conscience Weighs a Ton scheint Palumbo sogar ausnahmsweise einen Song mit seinen Gesangsmelodien zu bestimmen, anstatt sich seinen Platz in der erstmals ausschließlich von Beck geschrieben Musik erkämpfen zu müssen. Auch diese besser ausbalancierte Verschiebung in der Dominanz sorgt für mehr Bekömmlichkeit.
Spätestens wenn das mit Harmonien und Dissonanz gleichermaßen flirtende Cut and Run epische Größe andeutet, aber als abrupter Appendix eher in der Luft hängend entlässt, ist Material Control ein äußerst schwieriges Album geworden. Ein Grower, der die Erwartungshaltungen bewusst düppiert und trotzdem enttäuscht. Eine unfertig anmutende Karambolage aus mitunter fragmentarisch wirkenden Songs, die durch die Produktion zu einem stimmigen Ganzen verschweißt wurden Glassjaw liefern ein starkes Comeback, das die eigenen Ansprüche an die Platte nicht erfüllen will (oder kann), auf der anderen Seite aber als enorm kompakter Brocken bisher ungekannte Vorzüge der über die Jahre natürlich veränderten Band liefert. Das ist dann wahrscheinlich nicht die euphorisierende Platte, auf die man 15 Jahre gewartet hat – aber dennoch die brutal kloppende, durchwegs spannend fesselnde Standortbestimmung, die die weitere Zukunft von Glassjaw hiernach kaum früh genug beginnen lassen kann.
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