Giles Corey – Deconstructionist
Wenn ein Album mit Warnhinweisen verkauft wird, kann das schnell einmal als plakative Affektiertheit abgetan werden. Bei der Fortsetzung von Dan Barretts abgründigen Projekt Giles Corey darf man hingegen von einem wohlgemeinten Ratschlag sprechen.
Dass da nicht alles mit rechten Dingen beim sagenumwobenen Solo-Einstand des Have a Nice Life-Teils und Enemies List Chefs durfte man bereits beim selbstbetitelten Debütalbum im letzten Jahr feststellen, wo Black Folk und Lo-Fi Songwritertum von einer solch hoffnungslosen Finsternis geleitet wurden, dass einem wahrlich Angst und Bange werden konnte, während der Intensitätsgrad der klaustrophobischen Folterkammermusik ins Unermessliche trieb. Diesen Punkt hat Barrett aka Giles Coerey für sein irgendwo doch zwischen EP und Album – („THIS IS NOT A REGULAR ALBUM“ bzw. „Not a „record,“ but a philosophical tool.“ heißt es jedoch mahnend) gepflanztes, rein digital erhältliches Zweitwerk beibehalten, kann die Eindringlichkeit seiner stockdunklen Kreationen sogar noch weiter in die Depression reiten. Ansonsten macht ‚Deconstructionist‚ aber viele Dinge anders als ‚Giles Corey‚. Das fängt damit an, dass sich nur noch ein Drittel der Menge an Songs einfinden, dafür die Spielzeit aber um ein ebensolches gestiegen ist – oder anders ausgedrückt: ‚Deconstructionist‚ versammelt drei „Songs“ über knapp 90 Minuten, der kürzeste knackt immer noch spielend die 20 Minuten Grenze, der längste macht es kurz unter der Dreiviertelstunde.
Die Folk- und Country-Anleihen, die nachvollziehbaren Gitarrenakorde und Barretts verlorene Stimme – sie sind dafür beinahe komplett verschwunden. ‚Awake Now‚ ist unter diesen Voraussetzungen zur aufgeschichteten Lärmkaskade vernagelt worden, das schimmernde Radiatorenrattern im Untergrund breitet sich unwohl und gespenstisch aus. Das hat etwas von geisterhaften Stammesgesängen, intoniert von untröstlichen Untoten, die ihre rostigen Löffel wetzen. Noise, Drone und Ambient in einem, gleichzeitig, niemals jedoch wirklich. Ist ‚Infinite Death‚ deswegen aber gleich Postrock? Weil hier ein zehnminütiges Spoken Word Sample um Barretts Faszination rund um den Tod und das „Danac“h zirkuliert, während sich Gitarren daneben aufschlichten und in den Vordergrund drängen, bevor es im Untergrund wieder gehörig zu rumoren beginnt? Ist das schon Industrial, wenn die Bauchdecke ohne Beat vibriert, die theoretischen Spielerein sich ins Unterbewusstsein zu fräsen beginnen, die Spuren modulieren und man plötzlich weiß, wie ein Suizid-Seminar in der Eraserhead-Welt geklungen hätte? Ist es natürlich nicht. Vor allem aber deswegen, weil ‚Deconstructionist‚ keine „Musik“ an sich ist, sondern klangliches Experiment und Erfahrung. Ein vertonter Trancezustand, ein verstörender Trip, ein Experiment im Sound.
Dass ‚Epsilon‚ doch noch nachvollziehbare Strukturen über den wandelnden Rückkoppelungswellen andeutet, ist natürlich nur eine Finte. Die wie Ebbe und Flut keimenden Bassfrequenzen sind der rote Faden; niemals ist es ein Vergnügen ihnen zu folgen, es ist anstrengend und hypnotisch kräftezehrend, doch wird man mitgerissen und eingesogen. In seiner experimentellen Auslegung ist das tatsächlich nahe dran an „designed to induce trances, possession states, and out-of-body experiences“ verboten verführerisch und befreiend.
Inwiefern ‚Deconstructionist‚ damit letztendlich auch etwa wirklich gefährlich für Epileptiker wirken kann, sei dahingestellt, dass Giles Corey andernorts tatsächlich auffällige Reaktionen auslösen, scheint dokumentiert zu sein, darf aber natürlich nicht als Allgemeingültigkeit genommen werden. Fest steht hingegen, dass auch ‚Deconstructionist‚ eine dieser ganz besonderen, diesmal tatsächlich unbeschreiblichen Enemies List-Erfahrungen geworden ist. Beherzigt man dazu den Ratschlag, das fordernde, in sich verweilende Konstrukt über Kopfhörer zu konsumieren, öffnet sich hier jedoch selbst für das so aus dem Rahmen fallende Label ein einzigartiges Klangerlebnis, tiefdunkel und bedrohlich, eine unklar formulierte Alptraumfahrt in den beängstigenden Geist von Dan Barrett und in die Mythen, die er zwischen Wahrheit und Idee gesponnen hat. In deren Faszinationskraftfeld man sich nur zu leicht verlaufen kann. Allein deswegen macht es schon durchaus Sinn, dass Barrett ‚Deconstructionist‚ mit Warnhinweisen versieht. Eineinhalb Stunden, denen man ratlos gegenüber steht, die Tore öffnen können, die man eventuell nie gesucht hat.
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