Gatecreeper – An Unexpected Reality
Gatecreeper nutzen nach einem vielversprechenden Debüt und dessen enttäuschenden Nachfolger die personelle Trennung von Spirit Adrift mit dem Überraschungs-Coup An Unexpected Reality für eine Frischzellenkur.
Jetzt, da die personellen Präferenzen der beiden Schwester-Kombos geklärt sind, zeigen beide Fraktionen freiheitliche Ambitionen, um Entwicklungen voranzutreiben – Gatecreeper gar, indem sie zwei polarisierte Fronten der Extreme auszuloten.
Die eine, erste Hälfte der Platte (genauer: sieben Songs über nur knapp ebenso viele Minuten Spielzeit) steckt die Band ihren Death so in ein superknackiges Hardcore-Korsett, mit bollerndem Tempo und breitbeinig spuckend, samt angespannten Nackenmuskeln, in einer Reihe mit Nails und immer noch auch Entombed gerückt. Starved eröffnet als fette Breitseite und kloppt zum growlend-keifend-kotzenden Rabatz, der im nahtlosen Übergang keine Atempausen einlegt. Sick of Being Sober hat nicht nur einen Titel wie aus dem Municipal Waste-Lehrbuch, sondern auch einen entsprechenden Groove. Rusted Gold schwingt die Abrissbirne mit D-Beat-Feuer in den Metalcore, Imposter Syndrome reibt die Gitarren malmend zur Psychose knüppelnd und Amputation drangsaliert wie alles hier den Pit. Depraved Not Deprived injiziert dem Caverncore ordentlich Adrenalin-Glycerin und in Superspreader wummert die Double Bass zum thrashigen Harakiri.
Das alles klingt wie eine Frischzellenkur für die Motive der selbstbetitelten 2014er EP, ein kompromissloser Rausch nach vorne. Intensität entsteht durch rasendes Tempo und variable Härte, weswegen es auch sekundär ist, dass konkrete Riffs dabei kaum hängen bleiben – An Unexpected Reality lebt hier, in der Grind-infizierten Direktheit, von seiner puren Impulsivität, der druckvollen Energie, dem brutalen und unkomplizierten Spaß an der Aggressivität.
Die zweite Hälfte der – in ihrer Dualität von My War inspirierten – Platte (genauer: ein Song über knapp elf Minuten Spielzeit) wiederum bremst An Unexpected Reality als balancierenden Konterpart vollends zum Death Doom aus, nähert sich sogar der Funeral-Perspektive, so nahe wie selbst die bisherigen Closer der beiden Alben Sonoran Depravation und Deserted nicht. Episch ausgebreitet werkt nun eine ausladende Melodik. Gatecreeper baden nach dem punkigen Strom in der melodramatischen, melancholischen Harmonie und dunklen Hymnik einer malträtierend angerührten Heaviness, die zwischen den atmosphärischen Polen eine stoische Kaskade auftürmt, hinten raus im anmutigen Metal badet, Größe und Zeitlosigkeit sucht.
Das gelingt durchaus, auch wenn das überwältigende, monolithische und überlebensgroße Element nicht beschworen werden kann, das etwaige Kollegen und eben vor allem ausgewiesene Szene-Experten in dieser Ausrichtung inszenieren. Überhaupt sind die beiden Segmente der Platte eher angerissene Skizzen von Können, als wirklich ergiebige Meisterleistungen – auch Segmente, die das Live-Repertoire der Band bereichern werden.
Und während man sich deswegen und dennoch fragen darf, ob ohne wirklich ikonische oder individuell nachhallende Geistesblitze hiervon am Ende von 2021 noch explizit vieles erinnerungswürdig nachstrahlen wird, haben Gatecreeper auch aufgrund eines releasetechnisch noch nicht in Gang gekommenen Jahrgangs einfach das Momentum (sowie eine wohlwollende Aufwertung bei der Punktevergabe) auf ihrer Seite und pulverisieren etwaige Gedanken über die Halbwertszeit kurzerhand mit einer guten Platte zur richtigen Zeit. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
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