Everything Everything – Get to Heaven
Beeindruckt nun die enorme Stilvielfalt, mit der Everything Everything die Dinge knackig und hibbelig halten mehr – oder die Qualität, die hinter dem unterhaltungstechnisch unmittelbar zündenden Songwriting steckt? Fakt ist: In beiden Punkten sind die Briten der Indierock-Kollegschaft mit ‚Get to Heaven‚ mehr denn je zwei Schritte voraus.
Was ‚We Sleep In Pairs‚, dieses anmutige Balladenkleinod voller Herzschmerz, der entspannter Pop von ‚Brainchild‚, in dem sich Gitarre und Gesang als beste Freunde gegenseitig nachäffen, das getriebene beinahe-Instrumentalexperiment ‚Yuppie Supper‚ mit seiner feinsten Technik, die selbst Maxïmo Park auf ‚Too Much Information‚ zu mehr elektronischer Konsequenz überzeugen hätte können, sowie der martialisch feiernde, afrobeatinfizierte Hit ‚Hapsburg Lipp‚ und der hyperaktive, kaum weniger eingängige Ohrwurm ‚Only As Good As My God‚ gemeinsam haben?
Keiner dieser Songs hat es auf das dritte Studioalbum der Band aus Manchester geschafft, sondern nur auf die Deluxe Edition von ‚Get to Heaven‚. Everything Everything können sich diesen beinahe verschwendenden Kniff erlauben, erreichen sie mit ihrem Drittwerk doch einen neuen Höhepunkt, was das Zusammenspiel aus selektiver Konsequenz, ergiebiger Quantität, vor allem aber aufgefahrener Qualität angeht. Und Hand aufs Herz: Wer hätte nach dem zeitgeistfixierten Modealbum ‚Man Alive‚ damit gerechnet, dass sich Everything Everything tatsächlich auf lange Sicht als derart zuverlässige Hitschleuder mit Tiefgang etablieren würden?
Betont kunstvoll agieren die Briten in ihrem hip ausgerichteten Rockamalgam immer noch. Stimmakrobat Jonathan Higgs und seine Kumpanen haben es aber geschafft sich in eigentlich ausgetretenen Formatradiopfaden eine unverkennbaren Identität zu erspielen, dazu beherrschen sie das Einmaleins der Dynamik mit ihrem Händchen für schmissige Melodien und Hooks hinter ihren instrumentalen Fähigkeiten einfach zwingender als das Gros der Konkurrenz: Alleine im nervösen ‚Blast Doors‚ gelingt der theoretisch gestelzte Drahtseilakt von maschinegewehrartigen Rapmomenten, stechender Kopfstimme und melodramatischer Fistelgeste praktisch beachtlich mühelos. ‚Get to Heaven‚ kann es sich deswegen auch mit einer konzentrierten Nonchalance leisten unbeirrt dort weiterzumachen, wo bereits der Vorgänger ‚Arc‚ sein Zielpublikum in schwindlig spielender Euphorie hinterließ, schafft es dabei aber die Spannungsbögen auf Gesamtlänge noch einmal kompakter anzuziehen, auch nur auf den ersten Blick zugunsten der sofort ins Gesicht springenden Singlekracher. Denn sich einem ‚Distant Past‚ entziehen zu können, wo freche Dizzee Rascal-Einflüsse auf die Massenkompatibilität eines Calvin Harris krachen, nur um in einem superinfektiösen Refrain zu münden, der praktisch alles richtig macht, das die Klaxons so seit ihrem ersten Album nicht mehr zustande bringen, das funktioniert ebenso wenig, wie dem leicht verspult-entspannten Titelsong sein ansteckendes Sommerflair absprechen zu wollen oder bei den stilvoll tapsenden 60s-Shake des träumend aufmachenden ‚Regret‚ die Füße stillhalten zu können.
Wo Everything Everything zwischen dem Opener ‚To the Blade‚ (dessen Abfahrt in der Mitte Radiohead auch für ‚In Rainbows‚ verwenden hätten können) und dem fantastischen Alt-J-affinen ‚Spring / Sun / Winter / Dread‚ (welches einen Refrain auspackt, der über jugendliche Überschwänglichkeit soviel Melancholie versprüht, das die irre austickende Gitarrenexplosion im überragenden Finale fast notgedrungen im Keim erstickt werden muss) eingangs dann doch potentielle Hits am Fließband liefern, kippt die Stimmung mit dem hastig eilenden Ruhepol ‚The Wheel (Is Turning Now)‚, wenn die mit quicklebendiger Rhythmik unterfütterte nachdenkliche Schwelgerei sich unbeirrbar in Trance pulsiert. ‚Fortune 500‚ beschäftigt sich danach anhand eines stets dichter werdenden Indietronicgerüsts, dramatischer Atmosphäre, geloopten Vocals und in die 80er strahlenden Sequenzern mit den umsatzstärksten Firmen der Welt – zu keinem anderen Zeitpunkt fokussieren Everything Everything die anvisierte Schnittstelle aus artifizieller Sogwirkung und der unbekümmert wirkenden Nutzung des Momentums stärker.
Es ist einerseits gerade diese gefinkelte, überbordende, beinahe verkrampfte aber nur selten wirklich verkopft inszenierte Leichtigkeit in der ständigen Akribie, die über die Hintertür jenen detailierten Grips in die allgegenwärtige Partylaune pumpt, die Everything Everything (zumindest bis zur Rückkehr der Foals) zur derzeit wohl schlauest agierenden Indierockband der Insel macht – andererseits auch zu einer, deren bisweilen anstrengend werdender Ideenreichtum gerade in den zurückgenommenen Momenten die größte Strahlkraft erreicht: Dass der eindringlichste Song sich in Form des zu strahlender Größe aufgehenden ‚No Reptiles‚ wie schon auf ‚Arc‚ an vorletzter Stelle der Platte positioniert, fällt diesmal aber gar nicht so eklatant auf – weil Everything Everything mit dem trickreich stacksenden ‚Warm Healer‚ ein beinahe ebenbürtiges Stück Grandezza hinterherschicken. Spätestens wenn die Stringenz des Gesamtflusses hiermit stärker forciert zu Ende geht wird auch klar, weswegen es sich die Band mehr denn je erlauben kann, hochwertige Kompositionen nur auf Nebenschauplätze zu parken: Everything Everything sind immer noch eine Single-Band, waren aber auf Albumlänge noch nie besser in dem was sie tun, als auf ‚Get to Heaven‚, dem bisher perfektionistischsten Sommeralbum 2015.
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