Die Nerven, Shitney Beers [28.10.2023: Orpheum Extra, Graz]
Spätestens seit Die Nerven vor rund einem Jahrzehnt ihren endgültigen Durchbruch hinlegten, hat sich das Stuttgarter Trio als absolute herausragende Live-Bank etabliert, die einfach immer geht. Die 100 Milliarden Dezibel Tour stellt dies sogar mit ausführlichem Blick in die Zukunft unter Beweis.
Den musikalischen Output von Maxi Haug in der Vergangenheit dagegen lange Zeit nicht auf dem eigenen Radar wahrgenommen zu haben, war immer eine Entscheidung, die damit zu tun hatte, dass die Wahl-Mannheimerin unter dem, mit Verlaub, einfach strunzdummen Namen Shitney Beers veröffentlicht. Dabei können ihre Songs (entweder in Best Coast‘schem Indierock locker nach vorne gehend oder als leisetretende Singer-Songwriter-Miniaturen a la Phoebe Bridgers angenehm gehaucht) abseits des abschreckenden Alias durchaus was.
Als Support der Nerven beschränkt sich Haugs Programm auf die zweite Kategorie – auf sanft gezupftes Slowcore-Gitarrenspiel und ruhigen, ätherischen Gesang. Wahlweise ohnedies die schönste, weil berührendste Seite der Musikerin, die mit viel Geplauder zwischen den Stücken „Zeit zu schinden versucht, um die Stimme zu schonen“ – Krankheit und Karaokeabend fordern eben ihren Tribut.
Was schon so passt: Weniger, weil sich bei den betörenden Kleinoden (über Shitney Beers‘ Ex-Freundinnen-Galerie) ob der zurückhaltenden Natur des Spiels irgendwann eine gewisse Gleichförmigkeit einstellt. Sondern, weil Haug sich als ziemlich amüsante Person entpuppt, der man einfach gerne zuhört. Egal, ob sie augenzwinkernd das Kriegsbeil gegen den nebenan mit seiner tiefen Stimme auftretenden Alexander Eder ausgräbt, oder ihrer Musik selbst ein wenig tiefer gestimmt als üblich noch mehr Melancholie und Sehnsucht mit auf den abendlichen Weg gibt. Inklusive abschließendem Lore Hecht (?)-Cover auf Publikumswunsch. Was in Summe tatsächlich eine ziemliche „Punktlandung“ ergibt.
Warum man die Nerven entlang von Fake sowie ihrem selbstbetitelten Werk an dieser Stelle ein wenig aus den Augen verloren? Rückblickend schwer zu sagen, derweil die beiden Alben sich ja eh ordentlich am Plattenteller drehten.
Gerade mit etwas Abstand ist dieser Umstand kaum zu entschuldigen, machen die zwei Langspieler doch nichts schwächer als die fulminanten Vorgänger. Spätestens jetzt hätte sich der Status Quo der Alben aber ohnedies geändert, gerade was Die Nerven angeht. Wie Keine Bewegung erst den bedrohlichen Kriegs-Einstieg wählt und dann ausgelassen joggt oder Ein Tag wunderbar anmutig das schroffere Postpunk-Erbe von The Cure kennt, ist einfach ziemlich fantastisch und fügt sich nahtlos in die Riege der hauseigenen Klassiker ein (etwa ein giftig hetzendes Die Böse, bevore eine atem(be)raubende Schlussphase von Der Letzte Tanzende weg – nach der Vorstellung der supertighten Rhythmussektion ein atmosphärisches Gitarrenmeer samt schnipsender Stille und Avantgarde-Exzess anbietend – über die Stafette aus Angst, Frei und Albtraum mit jeder Sekunde intensiver zu werden scheint.
Dabei stehen zwar eben Songs von Die Nerven, Fake, Fuidum und Fun prominent auf der Setlist – der Fokus liegt allerdings auf Material des wohl im kommenden Frühjahr erscheinenden nächsten Studioalbums: und hier ist tatsächlich ein Song besser als der andere.
Egal ob die Band die mehrmalige Notbremse provoziert (AIDL) oder tanzbar treibend agiert (Glas), bis niemand stillstehen will. Oder sich zweimal anschickt, sich offenbar selbst zu übertreffen, wenn Wir Waren Hier vom Noiserock bis zum Hardcore jede Abfahrt beherrscht und Große Taten (oder war es nun Funktionieren?) wahrhaft majestätisch im Ambient badet, sich getragen ausbreitet, und dann instinktive Detonationen sondergleichen zündet. Das ist Prime-Nerven-Niveau!
Dazwischen ist die Stimmung im Publikum stets sehr gut, die Band zudem wie immer gut aufgelegt (samt Umfrage-Challenge, was nun alte und was neue Songs seien; ein Slow-Mo-Twist als Würze hier, ein Disturbed-Scherz dort – und alles eingefangen von einem starken Sound und einer der besten Lichtshows, an die man sich in jüngerer Vergangenheit erinnern kann): in Sachen präziser Eindringlichkeit definieren Die Nerven zumindest in hiesigen Breitenkreisen weiterhin Maßstäbe, was Eingespieltheit und messerscharfe Prägnanz samt einem Ausdehnen der (weichen wie harten) Schlagkraft auf der Bühne angeht, bis sich das charismatische Trio am Abschluss dieser Tour, rund eineinhalb viel zu kurze Stunden nach der Ode an die Freude, absolut verdient in den Armen liegt. Dass danach gefühlt trotzdem niemand nach dem Punlikum nach Hause möchte, sondern mehr von dieser ganz eigenen Nerven-Güteklasse, spricht eigentlich für sich.
Allesamt Eindrücke jedenfalls, die schon jetzt die Vorfreude darauf anheizen, die Band wieder aktiver auf dem eigenen Radar erfasst zu haben – und dem nächsten Studioalbum der Deutschen mutmaßlich schon jetzt einen Platz verdammt weit vorne in den hiesigen Jahrcharts 2024 zu reservieren.
Setlist:
AIDL
Glas
Europa
Niemals
WWH
Der Erde gleich
Die Bösen
Große Taten
Funktionieren
Keine Bewegung
Ein Tag
Der letzte Tanzende
AngstEncore:
Frei
Albtraum
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