Die Alben des Jahres 2017: 10 bis 01
Honorable Mentions | Kurzformate | 50 – 41 | 40 – 31 | 30 – 21 | 20 – 11 | 10 – 01 |
1o.
Fleet Foxes
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Crack-Up
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Nach einer langen Auszeit, die hauptsächlich dazu genutzt wurde, etwas Vernünftiges zu lernen, ist Robin Pecknold mit seinen Fleet Foxes als veränderte Band zurückgekehrt. Prätentiöser ist man geworden: Ihr Sound ist immer noch verwurzelt in den üppigen, bärtigen Harmonien und durchhängenden Klängen, die ihre ersten beiden Alben zu Coffeeshop-Dauerbrennern
Und es ist großartig. Ganz gleich, wie viele Striche und Klammern Robin Pecknold in seine Songtitel einfügt, oder wie viele japanische Berge und mittelalterliche britische Monster hinter seinen Texten auftauchen, eine Fleet Foxes-Platte wird immer wie Fleet Foxes klingen – wehmütig, weise und nicht willig, so lange stillzusitzen, bis wieder Romantik einkehrt.
09.
Protomartyr
–
Relatives in Descent
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„It’s very easy to be angry at mankind, and what’s great about it is you have to attack yourself“ sagt Joe Casey und hat das bisher beste (dynamischste, dramatischste, vielschichtigste, instrumental zwingengste!) Album der aktuell wohl besten Postpunk-Kombo zwischen den Polen Art- und Noise-Rock inhaltlich zu einem wahren Rundumschlag gemacht – mit dem fragwürdigen Wunder Mensch im Auge des Sturms. Alleine schon der unpackbare Opener A Private Understanding („It’s kind of a store house for a lot of lyrics I had for a long time„) bedient sich unter anderem bei The Anatomy of Melancholy, erinnert sich an Epiphanien von Elvis (inklusive Stalin und Jesus) sowie unter den Tisch gekehrte Wasservergiftungen in Flint und gönnt sich mit seinen vile trumpets zudem zeitaktuell politischen Spielraum.
Im weiteren Verlauf flaniert Casey durch den Alptraum Detroit und blickt dem eigenen Vermächtnis desilusioniert in die Augen, hört den Windsor Hum und gibt sich entlang unzähliger literarischer Referenzen belesen. Ja, Protomartyr intelektualisieren immer noch gerne. Aber sie brechen den allgegenwärtigen Zynsmus nunmehr auch immer lockerer mit dem Funken Humor auf.
„You say your name is Laszlo/ I don’t think that is true / Because I know a Laszlo/ And he doesn’t sound half as smart as you“ heißt es im energischen The Chuckler. Ursprünglich eine Insider-Attacke auf die Weisheiten von Drummer Alex Leonard. „All Laszlos are dumb.” erinnert sich Casey an die Ursprünge der Lyrics. “It’s my personal belief, and I go through life believing that.” Und weiter: “That was a lyric that we had to change, because I was initially making fun of Alex. But it’s too common of a name. Now we can’t play Hungary, because hundreds of Laszlos in the audience will get angry.” Auf Umwegen attackieren hier sogar die Pointen sich selbst.
08.
Converge
–
The Dusk in Us
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Keine andere Hardcore-Band hat sich so anmutig zu etwas Größerem und Besserem entwickelt wie Converge. Seit dem genredefinierenden Jane Doe machen es die Bostoner eigentlich kaum unter Perfekt. Das erste Album der Band seit fünf Jahren (und neuntes insgesamt), The Dusk in Us, bietet all die Wildheit und den Hunger der Blütezeit des Quartetts in den späten neunziger Jahren bloß mit Dramatik auf Anschlag. Hätte man bereits meinen können, dass All We Love We Leave Behind das gesetzte Alterswerk von Jacob Bannon und Co. eingeleitet hätte, überzeugt The Dusk in Us mit einer furiosen
Geschenkt, dass der vielleicht beste Track der Sessions es gar nicht auf das Album geschafft hat, definitiver noch als vielleicht jedes andere Album seit You Fail Me ist The Dusk in Us mehr als die Summe seiner Teile. Ein unfassbarer Grower bereits nach Hördurchgang 1, der keinen Übermut pflegt, sondern sich für seine Katharsis ohne feststellbare Längen Zeit lässt, kompakt und knackig drangsaliert.
So scharf, dringend und selbstreflektiv wie eh und je ist The Dusk in Us vielleicht quintessentiell Converge und den Hauch erwachsener und homogener als vor fünf Jahren noch.
07.
Power Trip
–
Nightmare Logic
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Mit Nightmare Logic wird der Albtraum greifbar. Geschrieben 2016 während der Vorwahlen in ihrem Heimatstaat Texas und veröffentlicht Anfang 2017, als alle gerade damit beschäftigt waren, zu realisieren, was für ein Wahnsinniger der neue US-Präsident ist, deckeln Power Trip ihre Wut, Verwirrung und Verzweiflung perfekt in 32 Minuten quälenden Thrash Metal der Marke Slayer.
Aber nicht missverstehen: Hier geht es nicht um Retro-Anbiederung. Power Trip haben ihre aufrichtige, obsessive Liebe zu frühem Thrash, aber auch Cro-Mags, Prong und Black Flag in einen überkochenden Topf moderner Metal-Meisterschaft gegossen. Und es wäre eine Schande, Nightmare Logic ausschließlich im Zusammenhang mit der Wut im Bauch (und Hinterkopf) zu hören, die zweifellos der Katalysator für diese Abfahrt war: Nightmare L
06.
Primitive Man
–
Caustic
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„You know, as a teacher, I have to be positive with children like 8 to 10 hours a day. So the rest of that time, when we’re writing songs, I am like the most fucking negative, mad person you can be“ erklärt Primitive Man-Vorstand Ethan McCarthy als wohl fröhlichster Lehrer der Welt. „I’m making harsh noise live, I’m so fucked up in my mind, you know? I want to make already extreme music more extreme because, to me, that is the fucking ground zero of the harshest. That’s it.“
Stimm schon, that’s it. Aber eben auch pures Understatement. Denn Caustic, das Zweitwerk der Denver’schen Pestbeule Primitive Man, setzt nicht nur unerbittlich den Weg fort, den [amazon_link id=“B00DDRKF4S“ target=“_blank“ ]Scorn[/amazon_link] 2013 aus dem Schatten legendärer Vorgängerbands wie Clinging to the Trees of a Forest Fire bereits aufzeigte, sondern potentiert dabei jeden Funken Hass im Doom zur Folter und gebärdet sich dabei derart heavy, aggressiv und schmerzhaft, dass es eine absolute Überwindung (oder zumindesteine gesunde Portion Sadismus) kostet, sich dieser beharrlichen 77 minütigen Tortur überhaupt freiweillig (und wiederholt) auszuliefern. Wo Ausführlichkeit über das seine tektonische Masse nur nuanciert verschiebendem Songwriting zum terrorisierenden Stilmittel wird, führt nur ein langer Atem zum Ziel. Und dieser entlohnt brutalst. Am Ende steht schließlich eine nihilistische Katharsis in erschöpfender, vielleicht sogar beispielloser Radikalität.
05.
Pallbearer
–
Heartless
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Pallbearer waren noch nie eine gewöhnliche Doom-Band, und auf ihrem dritten modernen Klassiker in Folge vollenden sie meisterlich, was mit dem Kleinod Fear and Fury 2016 bereits angedeutet wurde. In einem Befreiungsschlag von einem unendlich fokussiertem Album weichen sie auf Heartless noch weiter von ihren Sludge-Wurzeln ab – offenbaren sie gar als Mittel zum Zweck – und lehnen sich härter an schimmernde Gitarren, sehnsüchtige Vocals, deprimierte Prog-
Und ja, das war anfangs verwunderlich, fremd sogar, aber die Freude, die man in Heartless finden kann, ist ebenso immens wie sein Sound, und entfaltet sich langsam wie Trockeneis über sieben lange und ausgedehnte Epen. Am Ende steht eine wunderschöne Melancholie: Gitarren klirren und klingeln und schlingen sich umeinander, Stimmen überlagern sich in erhabener Harmonie, Arrangements schwellen nach Ebbe und Flut zu gigantischen Proportionen an. Wenn überhaupt, fühlen sich die klassischen, knochenerschü
Pallbearer haben ihren Doom vor fast vier
04.
Ulver
–
The Assassination of Julius Caesar
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Mit Kristoffer Rygg als einzigem ständigen Mitglied haben Ulver bereits Zeit als orchestrale Folk-Gruppe, als Jazz-Techno-Act, als minimalistisches Film-Soundtrack-Projekt, als improvisierendes Prog Rock-
Dennoch, fast ein Vierteljahrhundert nach ihrer Gründung, sind diese berechenbar
Wohin die Reise also auch als nächstes geht, die wunderschönen Dark-Pop-Songs auf The Assassination of Julius Ce
03.
Tchornobog
–
Tchornobog
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02.
Brand New
–
Science Fiction
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Bis vor wenigen Wochen hätte an dieser Stelle ein regelrecht unreflektierendes Jubelpamphlet stehen können, nein müssen: Das kaum noch für möglich gehaltenen Comeback nach acht Jahren seit Daisy haben Brand New schließlich mit 12 packenden, emotional mitreißend intensiven, vielleicht sogar nahezu makellosen Songs gekrönt, anhand derer der prolongierte Schwanengesang Science Fiction als Triumphzug mit enigmatischer Aura in die Annalen des jüngeren Alternative Rock eingehen hätte können.
Und doch findet man sich mittlerweile auf einem ambivalenten Minenfeld wieder: Man kann Science Fiction kaum mehr begegnen, ohne die Sexual Misconduct-Geschehnisse um Frontmann Jesse Lacey im Hinterkopf zu haben. Ein Umstand, der ratlos entlässt.
Denn: Ist es gerade bei einer Band mit klarem kreativen Sprachrohr wie Brand New überhaupt möglich, Kunst vom Künstler (bzw. auch von etwaigen zeitlichen Kontexten) zu trennen? Und möchte/ sollte/ kann man dies nicht – ist es dann richtig, Science Fiction (in Jahresrückbetrachtungen oder ähnlichem) grundsätzlich außen vor zu lassen, all die Geschehnisse rund um Lacey damit auch ein Stück weit unter den Tisch zu kehren? Oder bedarf es dafür (mitunter schwammiger) Argumentationen? Ist dieser Umgang drei Vierteln der generell stigmatisierten Band gegenüber fair? Oder einfach nur den Opfern gegenüber moralisch richtig? Ist es im Umkehrschluss hingegen notwendig, sich rechtfertigen zu müssen, wenn man Science Fiction nichtsdestotrotz weiterhin für seine musikalischen Vorzüge feiert?
Allesamt Fragen, die jeder für sich selbst beantworten muss – und auf die es in der Komplexität der Thematik keine einfachen Antworten geben kann, wie natürlich auch nichts Laceys Verhalten entschuldigen darf.
Brand New keine Plattform mehr bieten zu wollen ist absolut nachvollziehbar. Science Fiction an diese Stelle zu hieven jedoch ebenso, da sich an der zur Veröffentlichung der Platte formulierten persönlichen Einschätzung zum Album an sich nichts geändert hat, man mehr noch in der Musik längst von seinen Urhebern losgelöste Identifikationspunkte assoziiert und seine eigenen Geschichten in die Texte interpretiert. Das macht den Grat zwischen Meisterwerk und Mahnmal freilich nicht weniger schmal.
01.
Bell Witch
–
Mirror Reaper
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Wenige Dinge lassen die eigene Perspektive Richtung Ewigkeit schweifen, wie der Tod eines nahestehenden Menschen. Ein Umstand, der im Jahr 2017 nicht nur einmal zu einem bemerkenswerten musikalischen Output geführt hat.
Auch wegen der ausführlich anderorts breitgeschlagenen Mythologie hinter Mirror Reaper ist das dritte Album von Bell Witch eine der expressivsten und markantesten Metal-
Mirror Reaper könnte auch ohne die tragischen Umstände als Versuch von Bell Witch betrachtet werden, ein kolossaleres Werk als Four Phantoms (2015)zu schaffen. Der Klang des Albums ist sehr ähnlich, ebenso wie die Instrumentalisierung. Nur die Struktur lotet Grenzen neu aus. Mirror Reaper ist ein einzelnes 84-Minuten-Lied. Wenn sich das hier lang anfühlt, wie sieht’s dann mit der Ewigkeit aus?
Der Ausflug in diesen Klangkosmos ist bei jedem Mal eine aufs Neue faszinierende, auslaugende, aber auch lohnenswerte Odyssee in die respektvolle Katharsis eines niemals wirklich aggressiv zu Werke gehendenen Universums der Melancholie. Die elaborierte Länge ist kein prätentiöses Stilmittel zum Selbstzweck, sondern schlichtweg die nötige Ausdrucksform, um das Songwriting aus der schier endlos scheinenden Trauer wachsen zu lassen. Jeder Aufbau wirkt organisch, eine Entscheidung und Passage ergibt die nächste – der homogenste und gänsehauterregenste
Unmittelbarer, als es andere Funeral-Doom-Platten könnten, vermittelt Mirror Reaper die Reflexion des Lebens und des Todes, den Sensenmann als ein Faksimile des Kreislaufs des Seins. Wie bei allem, was Bell Witch betrifft, ist eine solche Erkenntnis nicht auf eine Art und Weise angelegt, die sich auf dem Schmerz oder Schrecken des Verlusts ausruht, sondern vielmehr in eine tiefere, aber nicht weniger heilsame Meditation über den Lauf der Zeit mündet. Da ist kein stiller Mahlstrom der diese Flammen löscht.
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