Die Ärzte – Hell

von am 27. Oktober 2020 in Album

Die Ärzte – Hell
Die Ärzte - Hell

Mehr Spielfreude, bessere Melodien und Hooks trotz pflegeleichter Nebensächlichkeit: Acht Jahre nach dem ernüchternd-egalen Auch geht noch was und Belafarinrod gelingt mit Hell der absolut zufriedenstellende, endlich wieder Spaß machende Umkerschub in einer qualitativ seit der Spendierhosen runtergezogenen Qualitätsspirale.

Es ist schon nachvollziehbar, dass sich (trotz der wenig überzeugenden Non-Album-Single-Ventile und der starken They’ve Given Me Schrott! – Die Outtakes-Compilation von 2019) in der langen Zeit der Abwesenheit – und der ebenfalls nicht kurzen Vorlaufzeit der Rückkehr – viel Material bei dem Trio aus Berlin aufgestaut hat. Jedoch ist das größte Problem des dreizehnten Studioalbums der Ärzte überdeutlich: Mit 61 Minuten Spielzeit bzw. 18 Songs ist die Platte einfach viel zu üppig geraten. Gerade der Mittelteil von Hell fällt enervierend ab und hangelt sich über eine gute Handvoll an Füllern, die das Gesamtwerk unnötig verwässern.
Das ska-schwofende True Romance mag etwa ein nettes Futter für die banalsten Radiostunden sein, doch der penetrante Refrain nervt schon beim ersten Durchgang. Wer verliert, hat schon verloren zeigt belanglosen Poprock ohne Kanten oder Relevanz, auch inhaltlich uninteressant, rund um sein Solo und technische Kompetenz aber zumindest souverän. Ähnliches gilt auch für die nette Rod-Nummer Polyester, der mit latenter Tocotronic-Nähe jedes zwingende Element fehlt. Fexxo Cigol ist als Tiefpunkt schunkelnde Harmoniesucht am Stehtisch – und trotzdem gar nicht notwendigerweise ein tatsächlich katastrophaler Ausfall. Allerdings eben eine solch durch und durch egale Bagatelle, dass die zahme Gangart der Platte in dieser Phase ausnahmsweise störend in der Vordergrund rückt und sogar soweit sensibilisiert, dass ein an sich solider Blödelsong wie Thor im weiteren Verlauf nach dieser spannungsloseren Durststrecke als redundante Routinearbeit wirkt, während das an sich ebenfalls kaum spektakuläre Clown aus dem Hospitz als unbeschwert-harmloser Poprock mit unbeschwert-nonchalanten Streicher  zuvor noch wohlwollend mitgenommen hat.

Zu diesem früheren Zeitpunkt der Platte hat eben der Kontext einen kurzen Leerlauf problemlos abgefangen. Denn abseits jener Passage, in der praktisch jedes Mitgleid einen absolut verzichtbaren Song beisteuern darf, revitalisieren die Ärzte ihre angestammten Trademarks auf Hell mit einer erstaunlich ansteckenden Spielfreude, benötigen abseits des Eröffnungsgag-Intros E.V.J.M.F. (ein witziger und überraschend kompetent gebastelter Düster-Trap mit synthetischer Patina) keinerlei Überraschungen, um ein Schaulaufen in der hauseigenen Komfortzone zu veranstalten, welches vor allem in der ersten Hälfte der Platte soviel Bock macht, dass der Reigen aus praktisch unmittelbar zündenden Melodien und Hooks selbst mit zahlreichen Klischees und Tropen (Wie viele Songs über die Definition von Punk bräuchte es beispielsweise tatsächlich noch? Und wie amüsant ist ein mutwillig abgewürgter Reim beim gefühlt drölfzigsten Mal dieses Stilmittels?) abholt.
Der gut aufgelegte Farin Urlaub liefert also Baukasten-Signaturen wie das schmissige, flott und so ansatzlos ansteckende Plan B oder das schwächere Warum spricht niemand über Gitarristen? (die hüpfende Nummer ist an sich unverbindlich, gewinnt aber durch ein psychedelisches Stoner-Solo sowie schöne Tempo- und Dynamik-Wechsel) inhaltsleere Ohrwürmer über Ärzte-Musik – im ähnlich gearteten Achtung: Bielefeld macht Bela praktisch das selbe, nur entscheidet er sich im Zweifelsfalle (einer Zeitgeist-Bestandsaufnahme mit der Mode, das Smartphone selbst am Scheißhaus dabei zu haben) für die politische Fußnote anstelle des krähenden Humors. Passt beides, weil die Performance knackig und das Auftreten ambitioniert ist.

Morgens Pauken lebt vom angriffslustige Rod-Riff und funktioniert im zügigen Umfeld des Album stärker als für sich alleine stehend. Liebe Gegen Rechts probt die stampfende Country-Hatz mit Bierzelt-Refrain, was aufgrund der im Verlauf wachsenden, allgemeinen Vielseitigkeit nicht aus dem Rahmen fällt: Leben vor dem Tod ist (weniger Gänsehaut-schön als geplant) eine melancholische Einkehr und wäre der (konventionellere, aber auch) schlüssigere Closer gewesen, weil das politische Woodburger zwar einen fantastisch schwulen Twist im Lounge-Refrain hat, sich abseits davon aber musikalisch wie eine Adaption vom ähnlich punkenden Thor anfühlt – die Intention, die Platte energisch beenden zu wollen, ist nachvollziehbar, doch der Fluß ist damit zuletzt etwas gebrochen.
Der sehr okaye Roadhouse-Roller Einmal ein Bier hätte ebenso gut wie das grandios schwachsinnige Suff-Gegröle Alle auf Brille ein Bullenstaat-Nachzügler sein können, womit auch außerhalb der Konsens-Verträglichkeit verdammt viel richtig gemacht wird. Am deutlichsten ragen aber zwei Farin-Hits aus der Masse von Hell: Das Letzte Lied des Sommers (alias Westerland 2.0) ist ein so locker den Schlager verführender Singalong, der beschwingt und unangestrengt die womöglich größte Single-Verweigerung der Ärzte in den vergangenen beiden Jahrzehnten sein wird, bevor Ich, Am Strand mit wummerndem Bass, tanzbarem Rhythmus samt Handclaps und gelöster Gitarre eine ebenso eingängige wie inszenatorisch tolle szenarische Erzählung eines fiktiven Lebens bietet. Die ausschnitthafte Erählung funktioniert bild- und fabelhaft, der Ska-Bläser-Refrain in der sandigen Sehnsuchtsoase des erst wiederkehrenden, dann vergänglichen Glücks, kontrastiert lebendig als Symbolbild. Was dabei fehlt ist allerdings der Katharsis-Moment, der die charmante Begleitung mit einer erfüllenden Erkenntnis, einem Klimax mit substantiellem Gewicht, entlohnen würde.
Durchaus symptomatisch für Hell im Ganzen übrigens. So bleibt es die große Kunst dieses meistens kurzweiligen Comebacks, eine verdammt ordentliche Stafette an absolut unterhaltsamen Routinearbeiten so unverbraucht und motiviert vom Stapel zu lassen, dass sich die Frage nach dem Mehrwert zumindest mit dem Momentum im Rücken selbst in Gegenüberstellung zu den Heydays erst einmal nicht stellt. Die Rückkehr der Ärzte in dieser Form sollte also nicht nur loyale Fans ein bisschen glücklich machen.

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