Coldplay – Everyday Life
Zwar haben Coldplay zwischen dem Ausfällen Mylo Xyloto und vor allem dem Offenbahrungseid A Head Full of Dreams mittels Ghost Stories (und auch danach mit der Kaleidoscope EP) durchaus gezeigt, dass man sie nicht vollends abschreiben sollte. Mit einer derart gelungenen Comeback wie Everyday Life konnte man nach der längsten Albumpause in der Karriere der Briten allerdings nicht rechnen.
Die noch größere Überraschung ist wohl, dass Coldplay gar nicht auf die einzig ersichtliche Art Abbitte leisten, über die eine Aussöhnung mit den Briten überhaupt möglich schien – nämlich eine bedingungslose Rückkehr zur Form der ersten zwei, weit gefasst sogar vier Studioalben.
Viel eher hat das nominelle Quintett aus London sein bisher experimentellestes und stilistisch vielseitigstes Werk aufgenommen, das man so noch am ehesten nach der Brian Eno-Kooperation Viva La Vida or Death and All His Friends kommen hätte sehen können. Selbst dort hätten jedoch zahlreiche Ausprägungen und Motive von Everyday Life für Aufsehen gesorgt. Vielleicht gerade die bisweilen explizit klerikalen Texte und die ebensolch musikalisch destillierten Songs, die schon einmal im mehrteiligen Klockengebimmel enden können. Etwa wenn das schlicht wunderbare Church wie Mobys Porcelain in entschleunigt mit perlenden Gitarren sanft vom Rhythmus nach vorne gestreichelt einen ätherischer Drive mit esoterischem Ausklang und wahlweise auch gar nicht notwendigerweise göttlicher Leseweise entwickelt: „When I’m with you, I’m walking on air/ Watching you sleeping there, yeah/…/ And for everyone, everywhere/ You’re answering every prayer/…/ ‚Cause when I’m hurt/ Then I’ll go to your church/ …/ I worship in your church, baby, always“.
Oder BrokEn bzw. BROKШN, das gleich als waschechter Gospelsong mit klatschendem Call-and-Response-Chor und ohne Instrumentarium daherkommt, mit dem Geheimnis, authentisch zu wirken. Wenn Martin vor dem tragenden Hintergrundstimmen „Lord, when I’m broken/ Feel that ocean/ Swallowing me/ Head is hanging/ So sorrowfully/ Oh Lord/ Come shine your light on me“ intoniert, ist das sogar durchaus spiritueller, als alles auf Jesus is King. Und in When I Need a Friend errichten elegische „Holy, Holy“-Chöre der London Voices sogar eine regelrechte Kathedrale von einem sakralen Interlude, das die erste Hälfte von Everyday Life verabschiedet.
Die beiden Segmente des achten Studioalbums von Coldplay sollen dabei als Reaktion auf das aktuelle Weltgeschehen verstanden werden, wodurch sich 16 kleine globale, durchwegs optimistische Fenster in zahlreiche (kulturellen) Ausrichtungen des Planeten ergeben haben. Tatsächlich ist Everyday Life eher eine Sammlung von mal konkreter, mal fragmentarisch (un)vollendeten Ideen und Songs, als ein konzeptionell rundum schlüssiges Doppelalbum geworden.
Der Verbund aus den beiden thematischen Teilbereichen Sunrise und Sunset ist keinesfalls loses Stückwerk, gerade der tagesrhythmische Spannungsbogen bleibt nachfühlbar, auch wenn die zweite Hälfte der Platte deswegen leider doch deutlich weniger zwingend ausgelegt ist, ihren Inhalt eher unverbindlich und mit liebenswerter Harmlosigkeit vorbeidösen lässt, zu unfokussiert keine wirklich überwältigenden Szenen mehr kanalisieren kann, eher beiläufig zu gefallen weiß und von der Atmosphäre lebt, wenn beispielseise WOTW/POTP – kurz für: Wonder of the World / Power of the People – vor vogelzwitschernden Field Recordings an der Gitarre schrammelnd, vor allem die Stimmung einer niemals überproduzierten Platte verdichtet und die wattierte Heimeligkeit des weltgeschichtlichen Hebelpunktes vorwegnimmt. Der Kitsch braucht kaum Klischees und leere Gesten, ist unprätentiöser, stellt den finanziellen Hit notfalls auch hinter den gesellschaftspolitisch naiven Weichspüler aus der Touristenperspektive. Ohne offensichtliches Distanzgefühl führt dies aber zu durchwegs schönen Ergebnissen.
Guns agiert als locker aus der Hüfte geschossene, nonchalante-lebendige und flotte Akustikgitarrennummer vor dem Hintergrund von dem Missbrauch von Schußwaffen und entsprechenden Gesetzregulierungen textlich zu offensichtlich, um so zynisch zu beißen, wie es sich die Band wohl eventuell ausgedacht hat. Champion of the World streichelt als angenehm umarmende Gefälligkeit, die als Sinnbild ohne aufgeblasene Megalomanie auskommt, wie auch der versöhnlich den Kreis schließende Titelsong keinen ergreifenden Überschwang jenseits des betörenden Understatements erzeugen kann. Auch wenn es zum Narrativ des Zyklus passt, wäre hinten raus ein bisschen übermannende Euphorie und Gänsehaut willkommen gewesen.
Orphans bietet sich dafür als unwahrscheinlich nette Popnummer mit funky Bass und Kinderchor als hartnäckiger Ohrwurm an und das liebenswerte Pianostück Eko als tonaler Morgentau, unschuldig und tröstend still. Aber eben auch: Mehr als ein weiteres Interlude, denn als vollwertig ausformulierte Komposition.
Ein Highlight dagegen die leicht verblasst schunkelnde Erinnerung an den Doo Wop der 50er, den die flapsige Symbiose Cry Cry Cry aus Martins toller Stimme und einem Helium-Sample von Cry Baby zaubert. Old Friends zieht unscheinbar an der Gitarre nahbar und intim in seinen Bann, ohne wirklich hängenzubleiben und بنی آدم vermengt erst ein klassisches, anmutiges Klaviermotiv zwischen Hisaishi, Sakamoto und Postcards From Far Away etwas ungelenk mit der Wendung auf Alice Coltrane und ein persisches Gedicht – quasi zwei Teilstücke unter einem Titel.
Über die Ästhetik knapp 55 einnehmender Minuten weiß aber selbst dieser relativ unspektakuläre abklingende, langsam zur Ruhe kommende Abgang von Everyday Life zu überzeugen. Obwohl sich die besten Szenen eben auf der Seite des noch energischeren Beginns finden.
Der eröffnende Sunrise klingt als Streicherpartitur tatsächlich wie ein erhebender Sonnenaufgang, majestätisch und grazile, als hätte Max Richter eine Feierlichkeit entworfen. Das zärtliche Trouble in Town ist als abgedämpft pulsierende Pianoballade mit melancholisch verwaschenen Konturen instinktiv nahe beim Frühwerk und das geradezu subtil, obwohl die Nummer nach einem Sample in ein wuchtiges Cinemascope mit nautischer Größe und gelöstem Gitarrensolo kippt. In dieser Phase lässt Everyday Life nicht nur in seine Tiefe abtauchen, sondern umspült förmlich mit einem herzerwärmenden Gefühl der nach vorne blickenden, die Seele balsamierenden Nostalgie. Das versöhnliche Daddy klimpert eben dort als simples Kleinod, mit aufrichtiger Sentimentalität und menschlichem Wehmut: Die Produktion der Platte will kein Spektakel sein, sondern steht beinahe schüchtern hinter dem Songwriting, unterstützt die Ideen und die Aura. Und wenn sich langsam das restliche Instrumentarium in den Song schmiegt, ist das insofern einfach ein wundervolles ruhiges Feuerwerk ohne Geltungsdrang.
Arabesque lehnt sich dagegen als mit Bläsern stampfende Weltmusik so weit aus dem Fenster, dass selbst Albarn und Sinkane anerkennend nicken werden. Dass das spacig mit offenen Strukturen zum krautigen Jazz-Jam fließende trotz französischsprachigem Festure von Stromae trotz voluminös in die orchestrale Breite anschwellendem Finale nirgendwo wirklich ankommt, ist ebenso symptomatisch wie die Tatsache, dass selbst der beschwingte Bonustrack Flags besser als alles ist, was Coldplay sonst im vergangenen Jahrzehnt zustande gebracht haben. Everyday Life ist flüchtig und nicht perfekt, interessant und kalkulierte Wagnisse eingehend, aber nicht an den eigenen Ambitionen und vor allem den eigenen marktwirtschaftlichen Verpflichtungen scheiternd. Dieser Alltag ist eine Geschichte, die vom Suchen handelt, nicht vom Finden – und die als optimistisches Mosaik ohne atemberaubende Aufregung funktioniert.
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