Calculating Infinity: The Dillinger Escape Plan
Trotz potenterer Epigonen wie Frontierer oder Callous Daoboys ist die überlebensgroße Lücke, die die Mathcore-Pioniere The Dillinger Escape Plan vor knapp drei Jahren hinterlassen haben (natürlich und zwangsläufig) immer noch ungefüllt.
So traurig die Entscheidung der Band „einen Seinfeld zu machen“ deswegen gewissermaßen auch bleibt, so sehr ist sie angesichts einer makellosen Diskografie rückblickend auch der perfekte Schritt gewesen, um das eigene Denkmal auf ein Podest zu heben: Sechs Studioalben hat Gitarrist Ben Weinman als einzige Konstante der New Jersey-Kombo mit fünfzehn wechselnden Bandkollegen (exklusive Steve Evetts, Sean Ingram sowie Mike Patton) über zwanzig Jahre veröffentlicht, und damit früh die Grenzen des Mathcore mitdefiniert, sogar in neue Extreme verschoben.
Seit dem Ende der Band über drei Konzertabende im Dezember 2017 ist deren finalen Besetzung – neben Weinman Bassist Liam Wilson, Drummer Billy Rymer, Sänger Greg Puciato sowie Gitarrist Kevin Antreassin – gut mit neuen Projekten beschäftigt: Azusa, Killer be Killed, The Black Queen, Giraffe Tongue Orchestra, Glassjaw, Thoughtcrimes sowie Jobs am Produzentenstuhl bzw. als Tourmusiker stehen auf der Agenda.
Dass Weinman aktuell aber mit dem ursprünglichen Sänger Dimitri Minakakis an einer neuen, rund um Choir Boy noch namenlosen Plattform werkelt, schließt gewissermaßen nicht nur personell ein bisschen den Kreislauf zu den Anfängen um die Zeit der selbstbetitelten EP von 1997, sondern bietet auch eine ideale Gelegenheit, um den beeindruckenden Katalog von The Dillinger Escape Plan Revue passieren zu lassen.
06. One of Us is the Killer
Veröffentlichungsjahr: 2013
Produzent: Steve Evetts
Spieldauer: 40 Minuten
Review auf Heavy Pop: 07/10
The Dillinger Escape Plan müssen niemandem mehr etwas beweisen – und zementieren deswegen entlang elf guter bis hervorragender Standards ihren Signature Sound auch eher, als dass sie die Grenzen abermals ausweiten. Es müssen insofern also eher die Feinheiten sein, die Puciato dieses Album als größten Evolutionssprung seit dem Debüt bezeichnen ließen – vielleicht meint er damit aber auch die es sich phasenweise zu einfach machenden Refrains, die sich neben einer gesteigerten Zuneigung für deliriant Färbungen gerne selbst repetierten.
Freilich ist auch das relativ gesehen schwächste Album der Band nicht schlecht, absolut nicht: Songs wie Prancer, das Titelstück oder When I Lost My Bet – also: der eine hohe Messlatte setzende Beginn der Platte – katapultieren sich nicht umsonst unmittelbar in die Riege unverzichtbarer Setlist-Granaten.
Man kennt den Dillinger-MO jedoch zum Zeitpunkt des Erscheinens von One of Us is the Killer einfach, die Überraschungen und überwältigenden Eruptionen bleiben aus, ohne deswegen im Malen nach Zahlen per se zu enttäuschen. Was außerdem gerade im Rückblick mit etwas Abstand auffällt: Trotz einer anderen Herangehensweisen an den Aufnahmeprozess hat das fünfte Studioalbum der Band in seinen Grundzügen zwar etwas formelhaftes, das zudem eigentlich im krassen Gegensatz zu den Spannungen steht, die es zu diesem Zeitpunkt auch zwischen Puciato und Weinman gegeben haben soll. Doch selbst in einer derartig in die Ecke getriebenen Verortung will dem Quintett einfach kein Ausfall gelingen – One of Us is the Killer hat sich sogar erstaunlich gut gehalten.
05. Option Paralysis
Veröffentlichungsjahr: 2010
Produzent: Benjamin Weinman, Steve Evetts
Spieldauer: 41 Minuten
The Dillinger Escape Plan müssen niemandem mehr etwas beweisen – Option Paralysis will es trotzdem stellenweise. Etwa im grandiosen Widower, dass über weite Strecken wie eine Pianoballade von Ryūichi Sakamoto anmutet; im wirklich formvollendet aus der Steckdose heraus verschweißten Finalpart um Heat Deaf Melted Grill, sowie natürlich in Form des überragenden Openers Farewell, Mona Lisa, der alle Trademarks der Band auf einem Plateau jenseits der puren Kompetenz exerziert: Ein purer Killer.
Abseits davon bleibt das Niveau natürlich hoch, doch schleicht sich mittlerweile schon eine gewisse Euphoriebremse ein: Option Paralysis klingt dann über weite Strecken eben doch nahezu exakt so, wie man es erwarten konnte – zumal nach Ire Works in eine gewisse vorhersehbare Komfortzone umgeschaltet wurde. Mit dem Vorgängeralbum haben sich The Dillinger Escape Plan schließlich endgültig gefunden, nun zünden sie (mit ihrer beinahe finalen Besetzung) in diesem Hohheitsgebiet erstmals unter dem Party Smasher Inc.-Schirm ein paar rundum großartige und sehr viele mindestens solide – also außerhalb der eigenen Diskografie betrachtet: sehr, sehr starke – Routinearbeiten.
04. Dissociation
Veröffentlichungsjahr: 2016
Produzent: Steve Evetts
Spieldauer: 50 Minuten
Review auf Heavy Pop: 08/10
Zum weit im Voraus proklamierten Abschied nähern sich The Dillinger Escape Plan noch einmal der Hochform, hätten sich generell keinen besseren Schlusspunkt für ihre Karriere ausdenken können. Dissociation streift praktisch alle Szenen der hauseigenen Geschichte, greift nicht nur im nervösen (den Fluss etwas umgelenkt durchbrechenden) IDM-Frickler Fugue auch dezidiert auf Material der vergangenen zwei Dekaden zurück, wenn gleich das Opener-Trippel aus Limerent Death, Symptoms of Terminal Illness und Wanting Not So Much as To alles dekliniert, was im Grunde bereits auf Option Paralysis und One of Us is the Killer passierte – nur in viel besser, weil hungriger, dringlicher, intensiver und epischer.
Nicht nur funktioniert Dissociation jedoch als Korrektiv, sondern auch als Ausblick auf Dinge, die noch möglich gewesen wären, wenn sich das Finale erst eine wunderschön-elegische Streicherschönheit voller Anmut gedeihen lässt (Nothing to Forget) und sich über den aus Keyboardgeflechten klackernden Ambient-Elektronik-Titeltrack jenseits aller typischen Dillinger-Routinen verabschiedet. Mit Dissociation beweist sich eine Band ihre anhaltende Relevanz und Vormachtstellung, bereitet den Fans gleichermaßen den bestmöglichen wie schweren Abschied.
Für andere Bands wäre ein derartiger Schwanengesang also ein definitives Highlight der Diskografie gewesen. Dass Dissociation in dieser Rangliste nur vergleichsweise weit hinten rangiert, mag dann deswegen auch undankbarer wirken, als es ist. Zumal die ungnädige Reihung auch damit zu tun haben mag, dass die an dieser Stelle noch folgenden Werke einfach eine längere Vorlaufzeit hatten, um ihre Wurzeln weit in die musikalische Sozialisierung zu schlagen – aber auch damit, dass wir uns nun dem makellosen Feld der Mehr-oder-Minder-Meisterwerke nähern.
03. Calculating Infinity
Veröffentlichungsjahr: 1999
Produzent: Steve Evetts, Benjamin Weinman, Chris Pennie
Spieldauer: 37 Minuten
Calculating Infinity ist eines des wichtigsten Alben der Musikgeschichte im Allgemeinen und prägend für den Metal im Speziellen: Welche Folgewirkungen diese Platte auf unzählige Bands hatte ist wohl ebenso wenig zu taxieren, wie die Erinnerung des Erstkontaktes mit den 38 Minuten der Platte wohl jedem Hörer unvergesslich nachwirken. Nichts zuvor klang wie Calculating Infinity – und eigentlich auch nichts danach. Weswegen das Debutalbum auch gefühltermaßen auch bis heute aus dem restlichen Kontext von The Dillinger Escape Plan zu fallen scheint, zumindest eine absolute Sonderstellung inne hat.
Auf der einen Seite kann man die Tragweite dieses Ungetüms nicht verklären. Wie unpackbar erschütternd der Einschlag dieser technisch virtuosen Schnittmenge aus purer Metal-Aggressivität und jazziger Vertracktheit war und ist, ist jedenfalls beispiellos und nur anhand nachfolgender Klassiker wie Jane Doe ungefähr einzuschätzen. Wäre dies auf der anderen Seite nicht eine so subjektiv Liste, die sich auch daran orientiert welche Alben der Band man am liebsten und öftesten hört, müsste Calculating Infinity also alleine aufgrund der historischen Gravitation in seinem eigenen Wertungschema laufen und die Höchstpunkteanzahl zumindest reklamieren.
Es spricht jedenfalls so oder so für eine Veröffentlichung dieses Kalibers, dass Calculating Infinity bis heute nicht überholt klingt, oder unter der Last seiner ikonischen Rolle ächzt. Alles hier wütet immer noch so lebendig und hart, so ungezähmt wild, so unberechenbar und herausfordernd. Der Sound ist roh und schroff, aber fein ziseliert frickelnd – ein Paradebeispiel dafür, wie komplex aggressive, Chaos-Avantgarde inszeniert sein kann. Calculating Infinity ist jedoch kein technisches Show- Off über verkopften Konstruktionen – sondern besticht mit einem gefinkelten Songwriting , emotional und impulsiv funktionierend. Die progressiv-radikale Halbwertszeit von Songs wie Sugar Coated Sour, 43% Burnt, *#.. oder Weekend Sex Change scheinen jedenfalls ohne Ablaufdatum, sie sind niemals Hirnfick um des puren Hirnficks Willen.
Auch wenn Weinman nie mit dem Ergebnis zufrieden war – der Tape-Aufnahmeprozess gestaltete sich kompliziert, Adam Doll verletzte sich im Vorfeld so schwer, dass der Gitarrist alle Bassspuren selbst einspielte und zudem geriet die Band in solche Finanzprobleme, dass man die Rechte an den Songs an Relapse verhökern musste – kalkulieren The Dillinger Escape Plan sich hiermit in die Geschichtsbücher. (Wichtiger werden The Dillinger Escape Plan danach vielleicht nicht mehr – wahlweise kann und darf man die darauffolgenden Epoche aber selbst als Purist trotzdem noch lieber mögen. Vor allem, wenn man den variableren Puciato dem reinen Brülleskalator Minakakis vorzieht und den Zug zum Hit generell nicht verschmäht.)
02. Ire Works
Veröffentlichungsjahr: 2007
Produzent: Steve Evetts
Spieldauer: 38 Minuten
Miss Machine hat dem Gespann um den zur Basis entwickelten Dreier Weinman, Puciato und Wilson offensichtlich die Selbstsicherheit gegeben alles zu können. Ire Works geht mir diesem Wissen in die Vollen und ist quasi die Kür nach dem Triumph, die Extreme austestet. Die Sprengfallen detonieren gleich zu Beginn mit einer hyperaktiven Stakkato-Rasanz und schließen zudem dezidiert Frieden mit Vergangenheit (Minakakis ist Gast-Aggressor im Opener Fix Your Face). Gerade im Mittelteil dosieren The Dillinger Escape Plan ihr Interesse am IDM außerdem hoch wie nie, wenn Ire Works über Songs wie Sick on Sunday oder When Acting as a Wave klingt, als wäre die Platte durch ein von Viren zerfressenes Aphex Twin-Programm zusammengehalten, dass nicht nur in When Acting as a Particle den Suspence-Faktor hoch treiben will. Und obwohl das Finale mit Mouth of Ghosts überwältigt, einer sanft aus der Jazzlounge gestreichelten Ballade, die sich mit klimpernder Geschmeidigkeit auf Abenteuerreise begibt, stechen dann doch vor allem die beiden Konsens-Überhits aus dem Ganzen: Black Bubblegum ist mit Handclaps und einem Bein auf der Tanzfläche so viel Patton-Pop wie möglich, während Milk Lizard als fette Annäherung an den Alternative Rock zur ultimativen Hymne mutiert.
Nur kleine Schönheitsfehler trüben diesen Rausch. Die Produktion der Platte ist beinahe eine Spur zu sauber geraten, weswegen Gil Sharone gefühltermaßen auch nie die tollwütige Energie seines im Bösen zu Coheed and Cambria abgewanderten Vorgängers Chris Pennie provoziert, während Dead as History und (der Brent Hinds-Besuch) Horse Hunter in der Trackliste die Plätze für einen runderen Fluß tauschen hätten müssen. Dass Ire Works dabei stets eher auf in Sekundenbruchteilen eskalierende Stiche setzt und zwischen einigen im Zwischenspiel-Modus experimentierenden Szenen nie die erdrückende Masse von Miss Machine erzeugt ist hingegen eine optimale Entscheidung für das kurzweiligste und massentauglichste Album der Bandgeschichte.
01. Miss Machine
Veröffentlichungsjahr: 2004
Produzent: Steve Evetts, Benjamin Weinman, Chris Pennie
Spieldauer: 40 Minuten
The Dillinger Escape Plan erfinden sich fünf lange Jahre – und eine wegweisende EP mit Mike Patton, der der Band zeigt, dass auch Melodien möglich sind – nach dem Debut neu, auch personell: Bassist Liam Wilson sowie (der seinerzeit noch gelegentlich Feuer spuckende sowie normale Shirts tragende Muskelmann) Greg Puciato betreten die Bühne neben Ben Weinman – und werden sie auch nicht wieder verlassen.
Plötzlich sind da zudem so viele Hooks und eingängiger Gesang, Fusion- und Rock-Tendenzen, elektronische Industrial-Einflüsse (auch von der Supergroup Error her), langsamere Tempi und griffigere Strukturen. Zudem zimmert die Band mit ihrem Stamm-Produzenten Steve Evetts immer wieder mit einer kaputten Opulenz anschwellende Momente von orchestraler Dramatik, ohne die mit Calculating Infinity erschaffenen Tugenden auf dem Altar der Bekömmlichkeit zu opfern. Weswegen der Rolling Stone sich seinerzeit auch zu einem schmeichelhaften Urteil hinreißen lässt: „Unless you’re trying to drive a third world dictator out of his barricaded palace, you’ll be hard pressed to listen to Miss Machine in its entirety.“
Richtiger ist aber, dass The Dillinger Escape Plan über tatsächlich extrem catchy zündende Nummern wie Phone Home oder gerade Setting Fire to Sleeping Giants in Form von destillierten Killer-Hits so, nun ja, konventionell an Bord holen wie nie zuvor. Dass statt der ausklingenden Hymne Unretrofied das zerschossene The Perfect Design die Platte beendet, ist dann aber ebenso ein Statement wie der überragende Beginn von Miss Machine, dessen berserkernder Rausch aus dem untrennbaren Doppel Panasonic Youth und Sunshine the Werewolf sowie Highway Robbery eine der besten Einstiegs-Phasen in ein Album ever auslegt. Der Wahnsinn bekommt ein kompatibleres System, während The Dillinger Escape Plan förmlich zu bersten scheinen unter all der Ambition, dem Hunger und den neuen Möglichkeiten, die sich nun bieten. Hier entsteht quasi aus dem Stand heraus die Version der Band, an die man sich erinnern wird – auch anhand zahlreicher Klassiker, an denen sich das Genre bis heute misst.
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