Bríi – Sem Propósito

von am 8. Mai 2021 in Album

Bríi – Sem Propósito

Caio Lemos lässt Kaatayra nach der triumphalen 2020er-Jahrgang offenbar ausnahmsweise ruhen und konzentriert sich auf sein Alias Serafim. Eine Entscheidung, die sich – wie das Bríi-Zweitwerk Sem propósito nun eindrucksvoll unterstreicht – ausgezahlt haben dürfte.

Immerhin ist der Nachfolger des erst im vorangegangenen Jahr erschienenen Vorgängers Entre tudo que é visto e oculto (sowie Esperança é um Pai que Abandona) nicht nur quasi eine direkte Fortsetzung und Weiterentwicklung des Debütalbums, sondern wächst unter einem Mehr an (stilistischen) Ambitionen auch zielbewusst über die bisherigen Grenzen des Projekts hinaus. Der avanatgardistische Atmospheric Black Metal des Brasilianers verliebt sich nun auch Versatzstücke des Minimal und Ambient Techno – Genre-versierte Kategorisierungsexperten sprechen von Psybient  – ein.
Was so allesamt zu kurz greift. A beginnt nämlich zwar in der dystopischen Elektronik, findet über einen pumpenden Beat gar zur halluzinogenen Clubmusik mit mystisch-folkloristischen Texturen. Ein beinahe thrashiges Riff erhebt sich aus dem Nebel, wird von einem im Sound entrückten Black Metal mit Blastbeats und verfluchtem Gekeife assimiliert, näher bei weniger puristischen Vertretern wie Deafheaven oder Liturgy agierend. Die Synthies schimmern und blinken und fiepen und mitunter verfremdete Vocals begleiten – alles im Dienst der Sache. Nichts hier ist erzwungene Pastiche, alles passiert in einem instinktiven Sog, den Lemos mit seinem Gespür für heroische Melodien adelt. A fusioniert später die Weite des psychedelischen Postrock, als würden Grails in die 70s gniedeln, dringlich und mit ungezwungen hoher Spannung, zum Progrock, ballert als sanft jubilierender Walkürenritt und atmet kurz durch, um sich als harsche Ballerei die bis zu orthodoxen Chören streift, doch nutzt der Dauerveröffentlicher das strukturoffene Wesen der Nummer letztendlich, um die aggressionsfreien Elemente im Finale zu einem friedlichen Amalgam zu versöhnen.

B übernimmt dort mit südafrikanischen Flair, eröffnet wie eine Trance-Erinnerung an Rainforest Spiritual Enslavement, die sich langsam als somnambuler IDM auslebt, bedächtig wogenden und mit sparsamer, aber pointierter Rhythmik – nur um in seinem Mittelpart als Herzstück einen dämonisch frickelnden Black Metal-Sturzflug samt vogelfreier Gitarre-Achterbahnfahrt zu zeigen. Ein Spektakel, dessen Performance ebenso kompakt und zwingend ist, wie sie in Extase abdreht. B zieht sich kurz vor seinem Ende von Sem propósito noch einmal schimmernd in den Stranger Things-Synthwave-Anachronismus zurück, behält sich sein Rhythmusgefühl jedoch erst greifbar lotsend, dann unterbewusst nachhallend bei. Spätestens beim synkopisch herbeigejazzten Dark Ambient-Finale in all seiner sinistren Pracht, stellt sich die Frage, ob The Mars Volta so als Black Metal-Band klingen hätten können.
B agiert strukturell damit vielleicht (nein, keineswegs konventioneller, aber doch) weniger variabel und vielseitig die diversen Segmente einverleiben als A, lässt seine  Substanz dafür aber mehr Volumen entwickeln, wirkt konzentrierter. Beiden Song-Monolithen ist über jeweils exakt 28 Minuten und 12 Sekunden jedenfalls gemein, dass sie all ihre Ideen und Ausrichtungen so schlüssig verwoben haben, gleichzeitig stringent und mit dem nötigen Raum umgesetzt zeigen, verdammt kurzweilig agierend vor allem ein homogenes Ganzes ergeben.
Was in weiterer Folge doch tatsächlich bedeutet: Haben wir es mit Bríi gar womöglich doch mit der besten Spielwiese von (dem hier wieder beinahe alles im Alleingang gestammet habenden) Lemos zu tun? (Das beste an dieser Frage ist freilich, dass man sich für keine Antwort entscheiden muss).

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