Boris – LφVE & EVφL
„New Ground“ haben Boris im Leben nach der doch abgeblasenen Trennung für LφVE & EVφL ursprünglich in Aussicht gestellt, brechen dieses Versprechen nun aber mit einem weiteren gefühlten Gateway-(Doppel)Album zu imposanteren Passagen ihrer Karriere.
Man relativiert also doch: LφVE & EVφL soll als Doppelalbum, dessen beide Seiten im Austausch miteinander stehen und gegenseitige Extreme vergangener Platten repräsentieren (oder: „encapsulating conflicting connotations that interweave and become intricately entangled with one another, gradually eroding before becoming utterly singular“) sogar eine umgekehrte Reaktion auf das „dunklere und aggressivere“ Dear von 2017 darstellen.
Dieses überkandidelte Konzept darf man nach dem großartigen Vorhänger auf zumindest eine kleine Enttäuschung und auch weitaus simplere Tatsachen herunterbrechen: LφVE & EVφL verzichtet praktisch gänzlich auf „new ground“, bewegt sich referentiell primär durch viele der besten Phasen der Bandgeschichte vor über zwei Dekaden, lässt aber auch Spurenelemente von jüngeren Werken wie Präparat (2013) oder Noise (2014) zu. Mehr Boris also.
Ohne die Krücke des um Tiefe bemühten Überbaues muß sich dieses neue Quell-Material – denn so einfach ist es letztendlich, gestelzte Titel-Schreibweise und dualistische Erscheinungsform hin, Konzept-Exposé her!) deswegen den Vorwurf gefallen lassen, dass kein Moment auf dem (offiziell) 25. Album des Trios tatsächlich überraschend aus einer gewissen Komfortzone hinaustreben würde, selbst die essentielle Gewichtung von Dear niemals erreicht wird – geschweige denn in den angessteuerten bekannten Gefilden derart überwältigend oder ikonisch wäre, wie es die Meisterwerke der Japaner im Idealfall einmal waren: Man kennt die auf LφVE & EVφL bewanderten Landschaften nicht nur schlichtweg allesamt schon von Boris – man tut dies auch bereits merklich stärker ausformuliert, zwingender und unbedingter.
In einer inkohärenten Beschlagenheit sind die 62 Minuten der Platte jedoch eine gar nicht unbedingt inhomogene Wanderung geworden, auf der Boris zumindest ihre immanente Klasse auch selbstsicher als Trumpfkarte ausspielen können, über strukturoffen schwebende Kompositionen, die in Summe ein variables Gesamtwerk ergeben, das man auf Tonträger gebannt zwar eher passiv denn aktiv konsumiert, dies aber mit einer gewissen Genugtuung tut.
Ruhig und atmosphärisch ist Away From You praktisch eine verspielt groovende Reminiszenz an die behände fließende Grandezza von Flood und die verführerische Lieblichkeit von Rainbow. Der ätherisch-bauchige Bass sowie das hypnotische, repetitive Schlagzeugspiel dominieren das Klangbild neben dem unwirklich dösenden Gesang von Takeshi. Irgendwo weit hinten stellt sich zwar eine Gitarre potenziell auf die Hinterbeine für den Sprung in die Distortion bereit, lässt das Szenario aber nur kurz lauter aufbrausend am Postrock schrubben. Für die düstere Drone-Klanginstallation Coma darf man dagegen unbehaglich entfernt an Absolutego, an Amplifier Worship, an Akuma No Uta oder Boris at Last -Feedbacker- denken – aber auch an Ambient-Maler wie Basinski und Rafael Anton Irisarri. Derweil entwickelt der subversive Teppich eine beinahe verzweifelte Sehnsucht in der Textur, deutet das Können von Boris auf hohem Niveau an.
Enttäuschend entwickelt sich EVOL: Boris rufen mit stoischer Percussion und treibender Rhythmik zu den Waffen, entfachen einen Kriegstanz mit heulenden Vocals ganz hinten im Mix, die klingen, als würden The Body hirnwütig kreischen. Die Drums werden immer griffiger, die Stimmen atmen und schnaufen, Lightning Bolt vollziehen hier quasi einen Stammestanz – bis die Nummer plötzlich unmotiviert in ein nachdenkliches Postrock-Loch lenkt, das ganze Szenario abdreht und aus dem minimalistischen, sanft schreitenden Doomjazz neu aufwacht. Ein einfacher Beat folgt dann müde den Soundschleifen und der verwaschenen Stimme von Takeshi. Die nach und nach zwischen die Zeilen tröpfelnden Field Recordings spulen sich rückwärts, die Gitarre deutet eine ungemütlichere Form an, öffnen den Song letztendlich aber über eine hymnisch getragene Größe, deren Umfang nicht abgeschöpft wird.
Die Umstiege zwischen den frustrierend fragmentarischen Parts der Nummer bleiben zudem nachlässig konstruiert: Wieder wird abrupt der Saft zurückgedreht, um einer Monster-Shoegaze-Pop-Annäherung zu folgen, die doch nur in den austauschbaren Drone will. Und den haben Boris eben sonst mächtiger, gefährlicher und intensiver im Programm – da können noch so hektische Sprachfetzen durch den Hintergrund gefunkt werde.
Erst uzume zeigt, dass sie diese Gangart immer noch garstig, mit beklemmendem Unwohlsein drangsalierend beherrschen. S. LOVE stürzt sich danach als der deutlich faszinierendere der beiden Quasi-Titeltracks herrlich hymnisch in die Bresche und formt auf der falschen Fährte einen delirianten Trip: Die Vocals schleppen sich hirnwütig neben der Spur leiernd, die Gitarren sind halluzinogen phasenverschoben aus dem Spektrum ragend, trotzdem irgendwo verdammt catchy leiernd. Boris tauschen hier mit obskuren Inszenierungen eine sichere Bank gegen die verstörende Abstraktion – und operieren damit auf dem Highlight der Platte erinnerungswürdiger als im gesamten restlichen Verlauf.
In the Pain(t) geht als skizzenhafte Collage aus Vögelgezwitscher, Kinderlärm und Gitarrengeplänkel schließlich bestenfalls als Interlude durch, wo der behäbige Drone-Rock von Shadow of Skull stoisch-methodisch eine gewisse Trägheit hofiert, die Zeitlupenaufnahme des Black Metal jedoch leider nur andeutet. Nach viel einnehmer Routine kommt anstelle eines eruptiven Geistesblitz zudem nur der Cut, der orientierungslos und auch ein bisschen desillusioniert in der Luft hängen lässt.
Dass LφVE & EVφL durch solche Entscheidungen selbst bei untrüglichen Boris-Afficionados polarisierend aufgenommen wird und zwiespältige Reaktionen hervorruft, ist angesichts einer generell ambivalenten, mitunter beliebig erscheinenden Platte durchaus verständlich. Immerhin wirken die 7 Songs rein kompositorisch oftmals faul und nicht zu Ende gedacht. Sie sind Fingerübung, die, was Originalität, Wagemut, Kompromisslosigkeit oder Ambition angeht, ernüchternd zu gefallen wissen – allerdings dennoch ein mehr als nur überzeugendes Ganzes ergeben, das alleine über die Tiefenwirkung seiner Atmosphäre und der patentierten Boris-Aura die Fanbrille so euphorielos wie achtbar und anerkennend aktiviert. Nüchtern betrachtet macht dies LφVE & EVφL zu einer der solideren (und damit knapp auch sehr guten) Bandveröffentlichungen dieser Dekade – weniger aufgrund der explizit individuellen Charakterstärke, als vielmehr durch ein gewisses Schaulaufen der Zuverlässigkeit. Dass Dear nicht der Schwanengesang der Band geworden ist, muß hiernach jedenfalls nicht bedauert werden.
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