Boris – Heavy Rocks (2022)
2022 wartet die ganze Welt auf eine Jubiläums-Auflage des heuer zwei Dekaden zählenden Boris-Klassikers Heavy Rocks. Diesen Wunsch wollen die Japaner zwar (zumindest bis auf weiteres) nicht erfüllen – das „Ersatzprogramm“ ist aber eigentlich sogar noch besser.
Die kleine Chronologie auf dem Weg zum 28. Studioalbum von Takeshi, Wata und Atsuo aufrollend, war es auch auch ohne reines Wunschdenken im Fanboy-Hinterkopf klar, dass zum zwanzigsten Geburtstag von Heavy Rocks etwas im Hause der ihren eigenen 30. Geburtstag feiernden Instanz Boris passieren müsste. Als das Trio zur Feier des Jahres anstelle einer Neuauflage der legendären Platte aus dem Jahr 2002 aber nur eine groteske Single-Mischkulanz produzieren ließ, war das für Sammler frustrierend, und für alle anderen zumindest auf redundante Art egal.
Dass die Band wenig später dann doch den Langspieler Heavy Rocks auf Platte ankündigte, war dann nur so lange eine Befriedigung, bis das Leopardenmuster am Cover irritieren musste – es kann doch nicht so schwer sein, die Platte im klassischen Artwork auf orangem Vinyl neu aufzulegen, oder?! – bis ein Blick auf die Tracklist für Aufklärung sorgte: Nach elf Jahren erscheint doch tatsächlich unerwartet ein dritter Teil der Reihe. Was (trotz des triumphalen Laufes, den die in den 10er-Jahren qualitative Schwankungen durchlebenden Boris seit NO (2020) an den Tag legen) angesichts des (auch, aber keineswegs ausnahmslos an der ikonischen Klasse der Ur-Platte scheiternden) Vorgängers von 2011 zumindest gemischte Gefühle in der Vorfreude mitschwingen ließ.
42 vorbeirasende Minuten später ist allerdings klar: Boris reiten die Welle ihres zweiten Frühlings nicht nur mit bestechender Form weiter, sondern ringen sich und ihrem Sound auch ein weiteres Mal einige neue Facetten ab, während sie alte Tugenden mit juveniler Frische in die Auslage stellen.
Gerade der Einstieg in Heavy Rocks (2022) zündet dabei irgendwo zwischen den Polen Stoner und Noise als energischer Power-Rock (oder sogar wie es der Beipackzettel fantasiert: „the classic proto-metal sounds of the 70s“ allerdings artikuliert er als „something all new“?) direkt und zugänglich, macht mit einer kraftvollen Performance schlichtweg extrem viel Bock, schwitzt verausgaben, und nutzt seine frontale Agenda gleichzeitig auch nicht nicht ab, weil das Songwriting jedem Stück zumindest einen mit der Zunge schnalzenden Weirdo-Twist auf der Experimental-Rasierklinge genehmigt.
She is Burning ballert mit massiver Rock’n’Metal-Rhytmussektion randalierend nach vorne, exerziert den Hedonismus heulend-schreiender Gitarren, spendiert ein wenig Gebrüll im Hintergrund – und dann feiert plötzlich ein Saxofon als instrumentaler 22er-Individualismus in der ausgelassen hetzenden Pit-Party den Exzess und die Endorphine. Cramper fistelt heiser mit den androgynen Wata-Backing-Vocals einer gespenstischen Sedativ-Furie, derweil so viel Dampf unter der Haube kurbelt, bis ein Noir-Riff am AOR-Classic-Highway nach Sin City heult. My Name is Blank greint aus dem Hintergrund heraus dagegen apathisch besessen, packt später die freistehenden Soli aus, und lässt die Grundfesten so hart brettert In die Hardcore-Schiene shouten.
Danach schrauben Boris die stilistischen und kompositorischen Einsätze sogar noch rauf – und provozieren ein vielseitiges Spektrum, ein veritables Feuerwerk.
In Blah Blah Blah einigt sich der Free Jazz-Noise auf einen sinister abgedämpft groovenden Bass, um das Tempo der Platte in Feedbackschleifen abzubremsen, ohne wirklich die fokussierte Dringlichkeit zu drosseln, und eine fieberhafte Club-Verdichtung wie für das Delirium eines Krautrock-Musicals zu erzeugen. Question 1 mag zwar wieder den Tritt zurück aufs Gaspedal wählen, tut dies aber ohnedies gleich hymnischer, mit der sehnsüchtigen Geste samt packenden Nachhut, und badet dann auch noch in der shoegazenden Schönheit des Drone. Dass sich die Band mit tougher Kante für eine letzte leidenschaftliche Abfahrt zurückbrüllt, schließt übrigens keinen Appendix in akustisch gehaltener Spiritualität aus: Heavy Rocks (2022) ist so variabel und unberechenbar wie instinktiv schlüssig mutierend.
Nosferatou rumort monströs im Feedback, die Drums schnalzen und poltern mit archaischer Macht, der Gesang driftet ins Sphärische an, und die Klangschwaden folgen psychedelisch hallenden Bläsern in einen Fiebertraume auf Valium zu einer formfreien Halluzination, in der Lärm physisch wird, sich der Albumfluß wie ein organisches Geschwülst der Kakophonie windet. Ruins sprintet als Punk-Abrissbirne, für deren Gitarren alleine man Luft Gitarren-Zusatzpunkte in der Haushalts-Versicherung abschließen muß, bevor Ghostly Imagination als infernale Industrial-Disco-Stampede auf Speed-Steroiden pumpt, in der die Saiten wie ein Gummiball in einer explodierten Flippermaschine flimmern. Stichwort heterogen-homogene Geschlossenheit: 9 beginnt dann wirklich exakt dort, um einen Radau-Sprinter von der Leine zu lassen, der seine Vocals durch einen diffusen Trance-Schleier jagt, zu dem sich das restliche Gefüge kurskorrigiert und elegisch abdriftet.
Das leidenschaftlich gecroonte, in seiner gesanglichen Hingabe fast absurd erscheinende (not) Last song trägt dann als abschließende Ballade am Klavier, die es mit flehender Inbrunst über anfängliche Glitch-Effekte in die melodramatische Theatralik zieht, bewusst dick auf – bis sie mittendrinnen nach rund sechs Minuten einfach abrupt den Stecker zieht. Das irritiert in der regelrecht obskuren, den Titel des Album mit Pathos und demonstartiver Emotionalität unterwandernden Ausrichtung erst – und begeistert dann in der (wenngleich radikal beendeten) Konsequenz doch schonungslos, mitreißend, intensiv. Was schon auch sinnbildlich für das unerwartete und überraschende Heavy Rocks (2022) im Ganzen zu verstehen ist.
Oder anders: Nach dem schon so fantastischen W fehlt es dem Fanherzen in diesem bisherigen Boris-Wahnsinnjahr nun gar nicht mehr notwendigerweise noch an einer Neuauflage von Heavy Rocks (2002) zur unbedingte Glückseligkeit.
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