Boris – Fade
Was all die Platten des japanischen Trios in den vergangenen Jahren (hinsichtlich der stilistischen Ausrichtungen, aber auch der Inszenierungen) beinahe vergessen ließen: Drone-Boris sind im Idealfall die besten Boris. Fade ist eine Erinnerung daran – nahe der Ideallinie.
Das absolut überraschend aus dem Nichts kommende dritte Studioalbum der nimmermüden Tokyo-Instanz in ihrem Jubiläumsjahr 2022 klingt also weder wie W noch Heavy Rocks (2022), sondern deckt die Machtdemonstration zum 30 jährigen Geburtstagsfest im Spektrum der Boris‘schen Hohheitsgebiete dort ab, wo die Band mit Meisterwerken wie Absolutego, Amplifier Worship oder Feedbacker selbst mitgeholfen hat die Genre-Messlatte selhochzuhängen.
Eine irgendwo nostalgische Ausrichtung, die aber letztendlich vor allem nach vorne blickt, wie die Band selbst zu Protokoll gibt: „As the conclusion to these 30 years, “fade” will be released as the latest album under the moniker of boris (in lowercase letters). The wheels, road of rock and innovation that Boris maintains… This release is not bound by concepts of rock and music in general, but could rather be said to be a documentary of the world plunged into the chaotic age of Boris moving forward. Break into the present, post-pandemic era. Memories of the world wrapped in disorder and uncertainty already bring feelings of nostalgia. Every individual was cut off from society, but now have returned as one. Among that disorder like a primitive scenery, did you have fear? Did you doze off? Or in an extreme state of mind, did you even feel some comfort in the solitude? Among that disorder, did you make eye contact with yourself, or did you not experience such a moment? Now, wrapped in a thunderous roar, your whole body will be caressed on the way to awakening. Morning comes.”
Fade ist das entsprechende Drone-Pendant zu dieser Poesie. Und es ist eine Platte, die so für die Band in den 10er-Jahren gar nicht (mehr) möglich geschienen wäre – man denke nur zurück, wie oft man sich auf nahezu allen Boris-Alben der vergangenen Dekade darüber ärgern musste, wie wenig zwingende Macht die Produktion und der Mix den angedachten Monolithen von Wata, Takeshi und Atsuo verlieh.
Spätestens seit No ist freilich alles anders – seit das Trio in einer Art zweitem Frühling auf einer Welle der Unfehlbarkeit surft nämlich; auf der ihm plötzlich wieder alles fulminant gelingt, was vor dem Wendepunkt LφVE & EVφL eben nur noch sehr gut umgesetzt worden war.
Fade kann nun jedenfalls die Renaissance der Gruppe befeuernd nicht mehr auf die wenig schmeichelhaften Vorzüge einer geschrumpften Erwartungshaltung bauen, sondern muß sich als das erste Drone-Album von Boris seit langer, langer Zeit vielmehr mit den euphorischen Ansprüchen einer nach derartig veranlagten Ergüssen dürstenden Ohren auseinandersetzen. Die versammelten 64 Minuten tun dies vielschichtig und fesselnd, voluminös und mächtig und imposant. Als Klangmeer, das in der wohltemperierten Sanftheit tonnenschwerer Gitarrenwände reif und bedächtig umspült, anstatt zu erschlagen – und dabei neben der atmosphärischen Tiefenwirkung vor allem auch genug Ideen, Impulse und Wendungen parat hat, um im Rahmen seines MO immer wieder neue Reize und Akzente zu setzen.
Tatsächlich sieht es sogar so aus, dass rund die Hälfte der sechs Tracks hier zu knapp bemessen sind – was dann auch den gravierendsten Kritikpunkt an Fade darstellt.
序章 三叉路 – alias: prologue sansaro – rumort eindringlich über einem ätherischen Schimmern (und installiert dabei schon eine der Geheimwaffen der Platte mit den stimmungsvoll ausgearbeiteten Texturen) als melancholisches Bratzen über dem Funkeln sorgsam ausgeleuchteter Grundierungen voller Facetten und Nuancen der Heaviness, öffnet sich einem imaginierten Panorama der Sehnsucht und mutiert in Trance um als Old Projector-Twist im Appendix den Hintergrund als Drone-Metal stoisch umzulenken. Eine Wendung, die allerdings nach knapp zwei Minuten im Ende der Nummer verschwindet.
Ähnlich ergeht es 第三章 (汝、差し出された手を掴むべからず) – alias: chapter 3 (nanji, sashidasareta te wo tsukamu bekarazu) -, das erst als avantgardistische Klanginstallation aus zurückhaltenden Noise-Sprengel fiept und dann einen hermetischen Schwall aus den Saiten würgt, um mit beherrschter Methodik über den grausamen Schlund ätherischer Synthies zu wandeln – fast so, als würden Boris durch einen Festsaal schreiten, dessen chorale Ahnung wehklagendene verwunschene Seelen in den Wänden vermuten lassen. Das Finale nimmt als verschwimmen Erinnerung an heulende Gitarren-Exzesse der wilden Hardcore-Attitüde von No unter einem dekonstruierten Schleier wieder eine unerwartete Kurve, belässt die Wesensänderung jedoch leider abermals bei der vagen Ahnung.
Wirklich frustrierend ist jedoch nur der Abgang von 第二章 満ち草 alias chapter 2 michikusa – dem kurzen Herzstück einer Einkehr im Wata-Ambient-Beinahe-Pop mit sinistrer Groove-Schraffur und den sedativ-hypnotischen Konturen einer sphärischen Anmut, die wie ein düster nachhallendes Ausatmen von W anmutet – weil Boris hier einfach komplett abrupt den Stecker ziehen: Ein Effekt, der bei dem sowieso aus dem Rahmen fallenden Heavy Rocks (2022)-Closer (not) Last song cool funktionierte (und auch bei dem W immer wieder eingesetztschlüssiger in Ordnung ging), hier mitten im Album aber etwas wirklich frustrierend willkürliches hat – zumal 第二章 満ち草 an sich faszinierend genug angelegt wäre, um der Nummer noch gerne viel weiter zu folgen.
Die restlichen Teile von Fade erweisen sich jedoch als deutlich runder. 第一章 月光の入り江 -howling moon, melting sun– (alias: chapter 1 gekkou no irie -howling moon, melting sun-) pflegt garstig kratzend ein urgewaltiges Doom-Riff über dem gespenstischen Abgrund eines beunruhigenden Subtextes, monströs und mächtig. Nach knapp fünf Minuten kippt eine stoisch repetierte Abfolge aus drei Tönen als Mantra in das Geschehen, wird immer eindringlicher und bekommt eine beinahe psychotische Dringlichkeit in der sturen Unverrückbarkeit einer unterschwelligen Manie.Wie in Trance treibt ein halluzinogener Nebel aus melodiösem Gesang vorbei, bevor Boris auf den lezten Metern die Sunn O)))-Frequenzen im Wellengang einschalten, um sich elegisch schwelgend aufzubäumen.
第四章 マリンスノー (aka: chapter 4 marine snow) besticht als eine aus dem Feedback geborene Zeitlupen- Riff-Verschiebung, die brutzelt, fiept und knistert: wenn es in diesem Genre (auf Tonträger konserviert, die entsprechende physisch greifbare Live-Erfahrung natürlich außen vor lassend!) heute noch eines Schaulaufens bedarf – bitte genau so! Mit dem diffus gezupften Schlaflied als Intro schließt 終章 a bao a qu -無限回廊- (aka: epilogue a bao a qu -infinite corridor-) den Rahmen der Platte dann auch traditionsbewusst, trägt eine heroische Aufbruchstimmung in die Apokalypse des melancholischen Suspense, und blätter in sakraler Andacht durch erprobte Wälzer der Drone-Klassik – ohne darauf zu vergessen mit typisch wehklagend in den Äther geheulten Gesängen ein Flair zu addieren, das außer Boris sonst niemand hinbekommt.
Überhaupt ist Fade kein Ausdruck von Konkurrenzdenkens – weder an nahverwandte Gruppen gerichtet, noch an die Boris’sche Diskografie selbst. Der Referenzlast der eigenen Meisterwerke kann, will und muß sich dieser Reigen gar nicht aussetzen, sondern existiert in einem wunderbaren Paradoxon, in dem Wata, Atsuo und Takeshi sich im Schatten alter Geniestreiche die Sonne auf den Bauch scheinen lassen. Und eine Entscheidung, welches der drei 2022 veröffentlichten Alben nun das beste aus der japanischen Instanz-Schmiede ist, muß man angesichts der so unterschiedlich angelegten Wirkungsradien (trotz selbstverständlich erkennbarer Überschneidungen) ohnedies nicht treffen – sondern kann jedes Werk für sich ehrfürchtig genießen.
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