Boris – Dear
Dear pilgert mit transzententaler Sicherheit durch avantgardistischen Doom-Hohheitsgebiete: Ausgerechnet mit ihrem angepeilten Farewell-Album zum 25. Jubiläum machen Boris endlich wieder explizit deutlich, wie unverzichtbar die Japano-Institution immer noch ist.
An sich kein schlechter Plan von Takeshi, Wata und Atsuo, sich mit dem prolongierten Schlussstrich für das je nach Zählweise 22., 23. oder 24. Studioalbum noch einmal zusammenzureißen und auf ihre eigentlichen Stärken zu besinnen. Schließlich warf die unübersichtliche Discografie des Trios in den letzten Jahren zwar immer noch vereinzelte Highlights ab (etwa Gensho mit Merzbro Merzbow oder der Formanstieg Noise), doch standen in einer niemals wirklich missfallenden Qualitätsware primär eben doch bedingt essentielle Experimente (beispielsweise das Trio War Path, Urban Dance und Asia) oder semispektakulär aufgekochte Routinearbeiten nebst enttäuschenden Geschmacksverirrungen (Heavy Rocks / Attention Please) am Programm.
Kurzum: Auswüchse einer beispiellosen Karriere, die das Potential von Boris zuletzt nicht wirklich anvisierten – eine Phase, deren rückblickende Wahrnehmung ein finales, versöhnliches Highlight aber durchaus relativieren hätte können.
„At the very first moment, this album began as some kind of potential farewell note of Boris – before it eventually came to represent a sincere letter to fans and listeners.“ erklären Boris und meinen damit einen eklektische Konzentration auf hauseigener Trademarks, die sich alsbald als Annäherung an alte Hochformen herausstellen sollte. Plötzlich war da also genug Material für drei neue Alben, aus dem Boris kurzerhand eines gebastelt haben, mit dem die Japaner ihre Anhängerschaft gleichermaßen belohnen, wie sich selbst: Dear ist weder das befürchtete zerfahrene Stückwerk, noch ein uninspirierter Aufguss alter Tugenden, auch keine verzweifelte Hommage, sondern schlichtweg ein enorm erfreulicher Fanpleaser – ziemlich sicher sogar das beste reguläre Studioalbum seit mindestens Smile. Wieder einmal.
Dear funktioniert gleichzeitig subtil und auf unterschwellig brodelnde Art brutal, ist ein verzweifelnd malmender Atmosphärebrocken mit reinigender Tiefenwirkung. Boris stemmen ihre Songs dafür aus einer gewissen Komfortzone, klar, tun dies aber nahe einer genrespezifischen Formvollendung.
D.O.W.N. -Domination of Waiting Noise- baut sich als monolithisches, tiefgetuntes Slo-Mo-Gitarrengebirge um grollendes Feedback und heulende Vocals auf, von elektronischen Störgeräuschen unterfüttert, die Drums lodern sporadisch. Das Epische wird mit Autopilot angesteuert, aber dennoch klingen Boris endlich wieder vom ersten Moment an richtig majestätisch. Wie eine Naturgewalt schrauben die Japaner Dear gleich zu Beginn nach unten, um ihr Playbook danach maßgeschneidert durchzudeklinieren.
DEADSONG (詩) ist minimalistischer schleppender Doom mit maximal intensiver Klaustrophobie: Molochartig fleht und flüstert und keift es aus einem nasskalt-finsteren Verlies, Boris würgen mit einer verstörenden Ruhe die Luft ab. Absolutego (絶対自我) taucht Dear dagegen mit einem Riff an, das an die ganz frühen Tool aus den späten 90ern erinnert, nur um den rockende Kaleidoskop immer wieder im Tempo zu variieren, bis zum Stillstand zu drangsalieren, im Gesang mit poppigen Melodien und malträtierendem Gebrüll zu attackieren. Das hat etwas von den besten Momenten von Down und den Windstein-Verschiebungen, lässt ein hemmungsloses Solo wie eine wütend in den Himmel verreckende Anklage heulen, und öffnet Dear zur Mitte hin der Variabilität.
Die ätherisch zurückgenommene Beyond (かのひと) wirkt etwa erst als Ambientwelt von subversiver Schönheit für Wata, still und reduziert. Kurz platzt die Klangwelt zu einem bestialischen Metal-Sumpf auf, um am Ende in eine regelrecht verträumte, seltsam anschmiegsame Sludge Walze mit Takeshi an der Front zu münden. Auch Kagero (蜉蝣) gibt sich bittersüß versöhnlich, jedoch nur an der Oberfläche – darunter rumort es mit fiesen Rückkoppelungen und loderndem Noise. Biotope“ (ビオトープ) mutiert danach sogar zu einem fast zärtlich pochenden Experiment am abgründigen Dream Pop, bezaubernd wuchernd und in sich gekehrt, von feinen Gitarrensymbiosen durchwachsen.
Dass The Power seine Daumenschrauben aus Sunn O)))-Gefilden kommend ansetzt, muss nicht bedeuten, dass dem Riff nicht der Schalk im Nacken sitzen darf, während die postapokalyptisch glimmernden Synthies im herausragenden, die grandisoe Schlussphase einleitenden bösen Doom-Blues Memento Mori wenn schon nicht etwas optimistisches, dann zumindest zutiefst erhebendes kristallisieren, bevor Boris den Song verletzlich intim ausklingen lassen. Dystopia -Vanishing Point- (何処へ) beginnt dann gar als Lo Fi-Sehmannsgarn an der Melodika, flimmert postrockig als melancholische Elegie, die immer tiefer in eine schummrige Höhle kriecht. Dort finden Boris den abschließenden Titelsong, der Dear mit manisch bratzenden Zeitlupenwänden wieder langsam in den Mahlstrom zurückfließen lässt, aus dem Boris ihr im besten Sinne gescheitertes Abschiedswerk ursprünglich gezogen haben.
So erfrischend die wandelbare Versiertheit und konsequent verdichtete Expertise Dear damit auch sein mag, bleibt das größte und einzig wirklich gravierende Manko eines unheimlich befriedigenden Rundumschlags ein altes Problem der jüngeren Boris-Geschichte – der absolut suboptimale Sound. Der Gesang steht auf Dear über allem, die Drums klingen von einem Morast verschluckt, die Gitarren könnten ruhig noch drückender sein. Dear müsste monströs aus den Boxen hämmern, doch wo ist der Punch, das Räudige, die Unberechenbarkeit, zumindest die spektakulär Vielschichtigkeit des eingenommenen Raumes? Vor allem steckt einfach kaum eine Dynamik in der Platte, niemals lotet der Mix die Bandbreite des Songwritings auch nur ansatzweise aus oder schärft den Fokus auf die vielen vorhandenen Details der Produktion.
So stark Dear aufgrund seines Ausgangsmaterials nichtsdestotrotz ausgefallen sein mag, hinterlässt der viel zu zahme, regelrecht mutlos den erschöpfend knallenden Exzess vermeidende Klang der Platte so durchaus einen schalen Beigeschmack – kostet letztendlich aber eben doch auch kaum Sympathien. Schließlich ist dieser proklamierte Schwanengesang ein absolut revitalisierender Kraftakt, der für Boris im besten Fall den Weg zu einem alten Hunger freimachen könnte, vorerst aber zumindest schon einmal tatsächlich das womöglich bestmögliche Geschenk zum Jubiläum darstellt. Happy Birthday also und auf die nächsten 25 Jahre – das noch in der Pipeline wartende restliche Material der Dear-Sessions darf im zweiten Leben des Trios gerne bald mal nachfolgen!
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