Bob Dylan – I Contain Multitudes
Ob sich da ein neues Studioalbum ankündigt? Aktuell geht jedenfalls Schlag auf Schlag im Hause Dylan – nur wenige Woche nach Murder Most Foul folgt mit I Contain Multitudes die nächste Single.
Ein gravierender Unterschiede zwischen den beiden Stücken ist freilich schon ungehört überdeutlich: Wo Murder Most Foul eine 17 minütige Landschaft ohne klare Konturen oder Strukturen war, ist der kammermusikalischer Singer-Songwriter-Folk von I Contain Multitudes mit seinen knapp 5 Minuten Spielzeit eine geradezu kompakte, konventionell inszenierte und griffige Angelegenheit geworden, die alleine mit der Rückkehr jeder Strophe auf die titelspendende Zeile für eine veritable Hook sorgt. Spannung ist hier dezitiert das falsche Wort – doch Dylan agiert generell deutlich fokussierter und klarer im Setzen der Akzente, bedient sein (mittlerweile ja im Grunde eher nicht mehr als solches klassifizierbares) Spätwerk mit einer geradezu gedankenverlorenen Unaufgeregtheit, introspektiv und beruhigend.
Insofern verbindet I Contain Multitudes und Murder Most Foul nicht nur ein mysteriöser Hintergrund ob des jeweiligen Entstehungsdatums, sondern trotz der konträren Form auch eine ästhetische Nähe. Beide Nummern sind (wenn auch einmal implizit, einmal konkreter auftretend) zart, sanft und sentimental. I Contain Multitudes pflegt ein behutsames Gitarrenspiel und weiche Arrangements, Dylan singt dazu mit aller Zeit der Welt zurückgelehnt nostalgisch, erhebt seine Stimme niemals – und lässt darüber gerade auch inhaltliche Parallelen zu.
Auch die zweite Singles von His Bobness im Jahr 2020 beginnt mit dem Gedanken an den Tod und dem was bleibt („Today, and tomorrow, and yesterday, too/ The flowers are dyin‘ like all things do„). I Contain Multitudes bietet popkulturellen Referenzen von Walt Thitman, Antoin Ó Raifteirí, Edgar Allen Poe, Howard Schwarz, Mott the Hoople bzw. Bowie, William Blake und Heraklit, Carl Perkins oder Gene Vincent; auch versteckte selbstreferentielle Tribute-Momente und dazu einen Dylan im fast absurden Meme-Modus: „I’m just like Anne Frank, like Indiana JonesAnd them British bad boys, The Rolling Stones“.
Das alles ist aufkeinesfalls aufdringliche oder spektakuläre Weise großartig und lässt seine zeitlose Klasse mit viel Gefühl über die schnöde Routinearbeit hinauswachsen, muß sich aber eben den ungerechten Vergleich gefallen lassen, dass I Contain Multitudes keine derart faszinierende Imposanz und atmosphärisch verschlingende Größe wie das mystischer Murder Most Foul entwickelt. Nicht nur Dylan selbst wird damit verdammt gut leben können.
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