Black Midi – Cavalcade

von am 11. Juni 2021 in Album, Heavy Rotation

Black Midi – Cavalcade

Black Midi haben den improvisierten Ansatz von Schlagenheim auf Cavalcade gegen vorbereitetes Songwriting getauscht – was der Unberechenbarkeit der britischen Senkrechtstarter jedoch eigentlich keinen Abbruch getan hat.

Gitarrist Matt Kwasniewski-Kelvin war bei den Aufnahmesessions zum zweiten Studioalbum nicht zugegen, dafür aber Saxofonist Kaidi Akinnibi und Keyboarder Seth Evans. Es hat sich also auch personell etwas getan, doch vor allem war die Herangehensweise an die Musik an sich diesmal eine andere, wie Geordie Greep die Notwendigkeit einer selbstverordnete abermaligen kreativen Initialzündung erklärt: „People seemed to really like the debut album but after a while we all became pretty bored with it…So, it was like: this time let’s make something that is actually good.
Während Black Midi mit Cavalcade tatsächlich ein Album gelungen ist, das, um es vorwegzunehmen, Schlagenheim qualitativ abhängt, haben sie übrigens auch einen tatsächlich guten Titel für die Platte gefunden. Denn wo sich die Bedeutung von Cavalcade als musikalische Satzform zumindest in hiesigen Breiten wohl vermutlich nicht sofort erschliest, haben wir es bei den Segmenten der Platte wahrhaftig mit „geschlossenen Teilen eines mehrteiligen musikalischen Werkes“ zu tun: acht szenische, sprunghaft gegliederte Einzelszenen, die ein homogenes Ganzes ergeben, das erst einmal desorientieren kann, auch wenn die Essenz der einzelnen Mosaiksteine in ihrer kohärenten Basis schnell erfasst ist.

Black Midi harmonisieren ihr impulsives, technisch beeindruckend in den Schwindel verfrachtendes Chaos aus progressiven Math- und Noiserock mit all den polyrhythmischen Breaks und abrupten Ausbrüchen durch eine kräftige Hinzunahme des allgegenwärtigen Faktors Jazz, haben ihre kreative Explosivität in kanalisiertere, effektiver strukturierter Bahnen gelenkt, den Fokus auf in sich schlüssige Kompositions-Chamäleons jenseits den Jams gelegt und gönnen sich fiebrig brodelnd nunmehr auch so unerwartet weiche, betont geschmeidig agierende Kontraste, in Form der ruhigsten – ja tatsächlich schönsten! – Stücke, die die Band bisher geschrieben hat.
Dass sich die Amplituden gerade dadurch auch radikalisiert haben, trägt seinen Teil dazu bei, dass das reifere, im Eklektizismus eigenständigere Album die Band auf einer neuen Evolutionsstufe zeigt.

Der Opener John L, den man so ja schon einige Zeit kennen kann, ist insofern als erste Single auch gar nicht unbedingt ein repräsentatives Stück, wenn ein hypernervöses, simpel dängelndes Geschwindigkeits-Riff aus wenigen Einzeltönen mit extremer Dringlichkeit das Hauptmotiv bildet, das eigentlich nervig sein müsste, aber tatsächlich bei jedem Auftauchen wie ein eiliger Adrenalinschub wirkt – vielleicht, weil drumherum mal ein Piano das Stiegenhaus hinunterfällt, dann die atonale Kakophonie bis in den Lärm ausbricht, die Streicher hyperventilieren, plötzlich besagtes Piano wieder da ist und einen Ambientpart mitgebracht hat, der die Gitarren bis in den frickelnden Jazz austicken lässt – und die minimalistische, aber so verdammt catchy sitzen bleibende Hook ein fesselndes, elektrifizierendes Leitbild ist, das alle Elemente zu einem Mahlstrom auf Speed verbindet. Unbedingt (also im Sinne der manischen Direktheit) an den bereits vor dem restlichen Material mit Marta Salogni anstelle des später an Bord geholten John „Spud“ Murphy produzierten Einstieges schließt eigentlich zum einen nur Hogwash and Balderdash an –  selbst hier wechseln Black Midi jedoch kurz mühelos in die avantgardistische Goth-Auslage, schillern so überkandidelt wie eine – nein, eher drei zusammengewürfelte – Musical-Nummer auf rezitierendem Speed, bis der Druckventil-Wirbelwind als zweiter atemloser Rock(…)song der Platte vollkommen abrupt den Stecker zieht.
Zum anderen ist da Chondromalacia Patella. Hier (im zweiten von Kwasniewski-Kelvin mitgeschriebenen Song übrigens) nehmen eine staubtrockene Percussion und der Bass eine schrammelnde Dance/Postpunk-Gitarre Huckepack, ein hirnwütiges Saxofon grätscht wie eine Furie in das Geschehen, doch Greep beruhigt das Geschehen erst wieder zum nebulös entrückten Blues-Keller. Der Kompromiss ist eine eilig nach vorne getriebene, im Lavalampen-Licht lauernde Schnittstelle, in die der Exzess als Klammer noch einmal mit glimmenden Groove platzt, wild und dramatisch gestikulierend, manisch, extatisch solierend, bis alles in einer Verfolgungsjagd mündet.

Die Bandbreite und Gewichtung der restlichen Songs ist gefühlt nämlich breiter gestreut – weswegen die grandiose B-Seite Despair übrigens auch gut ins Konzept gepasst hätte. Das abschließende Ascending Forth zupft etwa erst als Folk-Miniatur, die zeigt, dass Black Midi nicht nicht nur Mahavishnu Orchestra, Frank Zappa und die 80er Platten von King Crimson gehört haben, sondern auch Talk Talk. Das Zeugnis kocht auf und ebbt ab, folgt seiner traumwandelnden Lounge hin zu einer Art Big Band-Sound, die nach fast 10 Minuten eine funkelnde Treppe emporgestiegen ist.
Das herausragende Marlene Dietrich ist sogar eine behutsam gecroonte Jazz Ballade, dort, wo auch Jungstötter sich vor Scott Walker verneigt. Selbst die Streicher folgen der romantisch in die Nostalgie schwelgenden Gangart, so versöhnlich und verführerisch zwielichtig. Der Twist ist, dass es keinen gibt. Keine drei Minuten braucht die Band, um sich authentisch zu verwandeln, und gibt damit auch den expressiveren Momenten mehr Luft zum atmen, die Möglichkeit, seine Sinne für das Spektakel zu schärfen.
Slow ist eine hibbelige Free-Fusion, aufgekratzt mitreißend, auch wenn der Vortrag so entrückt sedativ bleibt und nur mit dystopischer Schlagseite immer wieder aufblüht. Diamond Stuff nimmt sich lange Zeit, entwirft einen kontemplativ gezupften, bedächtig bedrückten Gitarre-Score am Slowcore, der an Damon Albarns Arbeit für Ravenous erinnert. Abseitig und umsichtig ist die Atmosphäre verletzlich, die zaghaften Arrangements haben etwas märchenhaftes, bevor die Nummer an Fahrt aufnimmt und Wahnsinns-Schlagzeuger Morgan Simpson den Song in einen ruhigen Postrock führt, sphärischen und abstrakt, der mit friedlich wogendem Chorgesang wie eine Symbiose aus Radiohead und Kamasi Washington bezaubert. Und Dethroned bündelt Trance-Bläser, zappelnde Grooves und muntere Gitarren als Referenz an Benjamin Clementine, bevor das griffige Stück immer unerbittlicher von der Tarantel gestochen zum Rausch wird.
Auch hier wird übrigens der größe Pluspunkt zum Material von Schlagenheim überdeutlich: Black Midi sind nicht mehr nur spannend und aufregend, sondern funktionieren nun auch auf emotionaler Ebene -und ziehen so mit Cavalcade an den Kumpels von Black Country, New Road und Squid ziemlich furios vorbei.

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