Beth Gibbons – Lives Outgrown

von am 16. Juni 2024 in Album

Beth Gibbons – Lives Outgrown

Nach dem modernen Klassiker Out of Season und der modernen Klassik-Interpretation Symphony No. 3: Symphony of Sorrowful Songs, Op. 36 ist Lives Outgrown ganz offiziell das Debütalbum von Grande Dame Beth Gibbons.

Dass aber auch Lives Outgrown die Grenze zur Kooperation nicht allzu streng zieht, indem das charakteristische Schlagzeugspiel von Lee Harris (dem nächsten Talk Talk-Mann also, der absolut traumhaft mit Gibbons harmoniert und hier bei vier Songs Songwriting-Credits bekommen hat) die knapp 46 Minuten Musik ästhetisch ebenso prägt wie der von James Ford zwischen die Assoziationen an Scott Walker, Mark Hollis oder Grizzly Bear (zu Yellow House-Zeiten) produzierte Sound.
Dennoch dominiert Gibbon als Mittelpunkt und Leitkegel das Wesen, die Ausrichtung und Gangart, und formt sie auch endgültig zu einer homogenen Einheit, obgleich die insgesamt zehn Songs (über „motherhood, anxiety, menopause and mortality“, geprägt von Todesfällen im Umfeld und der Erkenntnis „what life was like with no hope“) über ein ganzes Jahrzehnt hinweg entstanden sind – und ihre Stimme schmiegt sich als als sensibler Hoffnungsschimmer gegen eine ursprüngliche Dunkelheit.

Sie tut dies in Kompositionen, die durch ihre Ausstrahlung und Atmosphäre sofort fesseln, faszinieren. Sobald der unwirklich abgekämpfte Opener Tell Me Who You Are Today ohne Resignation seine Gitarre eine melancholische Melodie zupfen lässt, Streicher über Moll-Teppiche schreiten, Gibbons sich wellenförmig selbst begleitet und die wundersame Percussion nicht von dieser Welt zu sein scheint, ist zwar klar, dass Lives Outgrown in der selben Realität des Meisterwerks Happenings and Killings passiert, weswegen man sich auch ohne Portishead-Nähe heimelig und geborgen empfangen fühlt. Auch zeigt der unmittelbar einen ureigenen, nirgendwo sonst zu findenden Charakter in der Tiefenwirkung und emotionale Tragweite, beginnt sich dabei jedoch erst nach und nach zu erschließen.
In einem organischen Wachstumsprozess bleibt entlang eines auf seine Weise auch sperrigen Flusses vieles rätselhaft, detaillierte Klanglandschaften wandeln über einem undefinierbaren Grad zwischen konkreten Strukturen im griffigen Songwriting und einer formoffenen Unverbindlich, die niemals ganz zum schmerzhaften Kern von Lives Outgrown  vordringen – vielleicht auch, weil Gibbons und ihre Helfer keine einzelnen, konkret expliziten Szenen überwältigender Katharsis anstreben.

So wechseln im Verlauf jene Augenblicke, die einem am meisten das Herz aufgehen und die Seele streicheln, bei beinahe jedem Durchgang der Platte – wiewohl  die friedfertig schippernde Vorab-Single Floating on a Moment, mit ihrem bittersüßen, kindlich-niedlichen „Nowhere“-Chor einen besonderen Stellenwert einnimmt.
Burden of Life fließt schwerer und dramatischer, Lost Changes schwelgt schwer verdaulich. Rewind zieht die Spannung polternd enger und hat psychedelisch-bedrohlich sägende Schraffuren und lebt dennoch in einer naturalistischen, vom Lärm spielender Kinder durchzogenen Welt. Der mysteriöse  Groove von Reaching Out hat eine gespenstische Düsternis und interpretiert Tom Waits-Signaturen in weniger schrullig, lässt sich mit Bläsern exaltiert gehen und tänzelt ausgelassen antreibend, derweil Oceans sentimentaler und epischer angelegt ist, jedoch eben auf die verhaltene Weise der Platte.
In For Sale begleiten die launigen Streicher nicht nur, sondern kitzeln und sticheln okkult entrückt auf dem Basar des imaginativen Orients – es existieren hier stellvertretend für das große Ganze praktisch keine Brüche zwischen Arrangements in ausschmückender und tragender Funktion. Beyond the Sun rollt dort polternd weiter, macht mit einladender Geste auf, und feiert das weite Panorama in schiefer Kakophonie als Ritt durch Wüste, bevor das versöhnliche Whispering Love als folkloristisches Erwachen wie helle Midlake die Akustikgitarre wiegt und in naturalistisch Field Recordings transzendiert. „Far from our conscious mind/ Lie those fallow fields/ Where open hearts will wander“ singt Gibbons über einen von Raum und Zeit losgelösten Ort, der – vielleicht wie Lives Outgrown selbst – eher eine Idee, denn ein konkretes Ziel darstellt, und gleichzeitig den Augenblick zelebriert, während er nach der Ewigkeit greift.

Print article

Kommentieren

Bitte Pflichtfelder ausfüllen