Die Alben des Jahres 2024: 40 – 31
| HM | EPs | 50 – 41 | 40 – 31 | 30 – 21 | 20 – 11 | 10 – 01 | Playlisten |
40. Uboa – Impossible Light
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Impossible Light ist fesselnder als ein vor Adrenalin angespannter Action-Film. Denn Xandra Metcalfe erzeugt auf dem fünften regulären Uboa-Album, dem offiziellen Nachfolger des 2019er-Durchbruchwerks The Origin of My Depression, eine knappe Dreiviertelstunde lang eine Dramaturgie, der man sich mit einer obsessiven Faszination kaum entziehen kann, wenn technoider Suspense auf unterschwelligen Horror trifft und selbst die Anmut eines okkulten Ambient-Durchatmens als verstörender Albtraum aufplatzt.
Die durch ein über weite Strecken im instrumentalen Storytelling erzeugte Atmosphäre von Impossible Light ist jedenfalls in seiner imaginativen Sogwirkung relativ beispiellos in diesem Jahr und wird durch den makellosen Fluss eines perfekten Sequencings noch verstärkt – immer unberechenbar bleibend. Wenn, wie am Cover, ein wenig Licht in die Dunkelheit fällt, und all der Harsh Noise, Power Electronic und Dark Ambient wie Insekten auseinanderstoben, ist die freigelegte Schönheit der Platte nämlich nur umso verstörender für alle Beteiligten.
39. Arooj Aftab – Night Reign
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2022 gewann die mittlerweile in den USA lebende Arooj Aftab als erste pakistanische Frau einen Grammy – für den Song Mohabbat. Ein Jahr nach dem Kooperations-Werk Love in Exile hat sich die 39 jährige deswegen vorab viele Sorgen über den Nachfolger ihres Durchbruchs-Albums Vulture Prince gemacht hat: „It needed to be better, or at least the same… or at least it really needs to not suck. You know, when you have a record that people really love, you’re kind of fucked, because the next one has to be equally good or better.“
Das hat sie allerdings zum Kern der Sache gebracht, denn um Liebe geht es auch nun immer wieder.
„I’m drunk, and you’re insane/ tell me how we’ll get home” singt sie etwa in Whiskey und stellt abseits davon klar: „People think that it’s about a love of whiskey but it’s really about going to a bar with someone who’s drinking more than you….But you’re also not completely sober yourself, so it kind of sucks a bit“. Dazu breitet sich ein unwirkliches Ambiente aus, als würde Sade einen verführerischen Hybriden aus Ghazal und Jazz erträumen, phasenweise auf die Urdu-Gedichte von Mah Laqa Bai gelegt. Also „equally good or better“ wie/als das Vorgängeralbum von 2021 – keine Sorge!
38 . Uncle Acid & the Deadbeats – Nell‘ Ora Blu
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Ein Album wie Nell‘ ora blu hätte man Uncle Acid und seinen Deadbeats bei aller Liebe nicht zugetraut. Bis zum Vorgänger Wasteland, das so ja unglaublicherweise auch schon sechs Jahre auf dem Buckel hat, schien das von den Briten seit 2002 routiniert gelöste Abonnement auf den anachronistischen Heavy Psych und psychedelischen Stoner Doom den Handlungsspielraum schließlich doch vor allem auch festgefahren zu haben.
Und nun das.
Als imaginativer Soundtrack für einen nicht existierenden Giallo-Film besteht Nell‘ ora blu aus italienisch eingesprochenen Voice Over-Stimmungsbildern, atmosphärischen Instrumental-Passagen in sanft fließender Pink Floyd-Ästhetik, die bis in den Horror Synth und Dark Jazz mit meditativer Sogwirkung flanieren dürfen, und zurückgelehnt dösendem Progrock, der kein Interesse mehr an harten Riffs oder nackenmasierenden Rhythmen hat.
Das tolle daran ist, dass sich Kevin Starrs und Co. nicht an diesen Ambition verheben oder in der grundlegenden Exzentrik verrennen, sondern eine Retro-Spannung auf subversive Weise hoch halten, ihr stilistisches Spektrum versiert erweitern, und letztlich absolut authentisch in diesem Kunstprojekt aufgehen.
37. Gigan – Anomalous Abstractigate Infinitessimus
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2024: A Space Odyssey.
Oder: Sieben Jahre Pause haben demonstriert, dass einfach niemand da draußen einen derart massiven Alien Sci-Fi Tech Death Metal spielen kann wie Gigan.
Und 47 Minuten an geballter Comeback-Furiosität tun sie dies nun sogar eigenwilliger denn je.
Anomalous Abstractigate Infinitessimus ist als extraterrestrischer Trip strukturell herausfordernd, die Gitarren und das spektakuläres Schlagzeug bewegen sich phasenweise in Lichtgeschwindigkeit und die Melodien nutzen einen schwindelfreien Hyperraumantrieb.
Das Trio aus Tampa interpretiert die Realität dieser Umstände auf seinem fünften Studioalbum aber selbst für Gigan-Verhältnisse mit einem unkonventionellen Zugang. Über einen Hang zum labyrinthischen Chaos und elaborierten Noise, pflegt es mittels einer polarisierend verwaschenen Produktion eine klaustrophische, okkulte Stimmung im Weltall, um eine menschliche Verrohung abseits der Sterilität vieler Kollegen zu zeigen.
Das Ergebnis ist ein paradoxes: Was eine Intensivkurs für Die Hard-Fans sein müsste, holt eine Ausnahme-Band doch auch weiter aus der Nische.
36. Frail Body – Artificial Bouquet
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Egal ob als Support für die Keep You-Jubiläums-Shows von Pianos Become the Teeth oder Reunion-Konzerte der zurückgekehrten Blood Brothers: Frail Body sollen live trotz der fulminanten nominellen Hauptattraktionen offene Münder hinterlassen und immense Erwartungen gestemmt haben.
Immense Erwartungen deswegen, weil die Band aus Rockford mit ihrem (von State Faults Michael Weldon zurecht als „some of the fastest, heaviest, and most heartfelt music I’ve heard in a while“ bezeichneten) Zweitwerk Artificial Bouquet die Nägel in das Kreuz aus dem pointiert fokussierten An Exit Exists sowie dem ambitioniert weit ausholende Children of the Moon getrieben hat, und als Teil des führenden Triumvirats der heurigen Screamo-Speerspitze so viel mehr hielt, als ihr allerorts hochgejazztes Pseudo-Debüt A Brief Memoriam versprochen hat.
Frail Body beherrschen es nämlich mittlerweile nicht nur, ihren Sound ästhetisch mühelos vom Emoviolence über den Post Metal bis in den Blackgaze zu mutieren – sie schreiben in jeder dieser Auslagen auch endlich zu Ende gedachte Songs, die im Ganzen homogen zueinander finden und Artificial Bouquet zu mehr als der Summe ihrer Teile macht.
35. The Body & Dis Fig – Orchards of a Futile Heaven
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Distanz und Zeit spielen im Kanon von The Body ja immer eine gewisse Rolle. Manchmal ist das offensichtlicher, manchmal weniger.
Wo sich die Kooperationen des Duos gerne aus ihrem unmittelbaren, amikalem Umfeld rekrutieren (man denke alleine an die Arbeiten mit Thou, Full Of Hell oder BIG|BRAVE) haben Chip King und Lee Buford Felicia Chen alias This Fig (mit The Bug als gemeinsamen Bekannten) dagegen über das Internet kennen gelernt und die in Berlin ansässige Post Industrial-Elektronikerin aus New Jersey erst viel später persönlich in Europa getroffen – zumindest King, denn Buford steigt ja nach Möglichkeit weiterhin in kein Flugzeug. Entstanden ist Orchards of Futile Heaven dann über einen langen Zeitraum im ausdauernden Datenaustausch zwischen den beiden Parteien und dabei zu einer apokalyptischen Schönheit gewachsen, die sich nahezu perfekt in der gefährlichen Faszination des Artworks ausdrückt.
Die alte Faustregel, dass The Body auf sich alleine gestellt niemals ganz so gut sind, wie wenn sie sich kooperative Reibungspunkte suchen, haben die beiden mit The Crying Out of Things zwar kurz danach ohnedies einmal mehr widerlegt. Weil sie davor mit Orchards of Futile Heaven jedoch noch deutlicher die These unterstrichen haben, dass sie bei ihrem Gemeinschaftsprojekten zu wahrhaft Außergewöhnlichem fähig sind, kann man das subjektive Vorurteil weiterhin nicht zur Gänze zurücklassen.
34. Hurray For The Riff Raff – The Past is Still Alive
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The Past Is Still Alive ist die Hurray for the Riff Raff-Greatest Hits-Compilation aus ausnahmslos neuen Songs, die sich in diese eingängigen Griffigkeit und konsequenten Kompaktheit seit dem in Eigenregie veröffentlichten Debüt It Don’t Mean I Don’t Love You 2008 kaum abgezeichnet hat – selbst wenn Life on Earth den Weg dafür mit Übersongs wie Saga geebnet hat.
Dass Alynda Segarra dabei all diese Alt Country-, Folk- und Americana-Ohrwürmer als Trauerverarbeitung im Verlustschmerz geschrieben hat, verleiht der bittersüßen Ausstrahlung weit in die Tiefe gehende existenzialistische Ebenen, schmiegt das Politische eng an das Persönliche und hat als zutiefst emotionales Alben, dessen melodische Anmut so viele Textzeilen, die eine entwaffnend poetische Strahlkraft transportieren: „Your dreams are not your dreams/ They’re only visions of what you need/ You’re not the person you thought you’d be/ But I still love you/ It’s been a lonely year/ Everyone left, but I’m still right here/ I won’t desert you when times get rough/ Tell the bartender when you’ve had enough“. Da bricht auch Conor Oberst das Herz.
33. Vennart – Forgiveness & The Grain
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„In a frankly embarrassing turn of events, l’ve realised that, in withholding my records from That Streaming Service, I’m neither helping nor revolutionising a single thing. Not so much a defiant flick of the Vs, more a transparent monkey pissing into its own mouth. For true change to come along, the likes of Neil Young and Radiohead would’ve had to stick to their guns, and would’ve encouraged others to follow a similar path of resistance. That didn’t happen. They just quietly caved cos they realised they were all but invisible. Obviously, in comparison I’m not even a speck of dust on Daniel Elk’s warmongering arse.Needs must when the devil vomits into your kettle. My records are back on Spotify. Anyone need a guitar player?“
Letztlich hat Vennart seinen Widerstand gegen Spotify aufgegeben, damit aber (justament kurz, nachdem gefühlt jede Person auf diesem Planeten ihre Wrapped-Liste zu Schau gestellt hat) wieder zum Diskurs über die Plattform angeregt, die Reichweite generiert, aber die finanzielle Entschädigung von Künstlern praktisch ignoriert.
Dass nun mehr Menschen mitbekommen, was für ein großartiges Album (vielleicht sogar sein bisher bestes und sicherlich eines, das jedem Oceansize-Anhänger die Freudentränen in die Augen treiben wird) der Brite mit Forgiveness & The Grain da Anfang des Jahres mit fast ambienter Anmut in die Spacerock schwebend veröffentlicht hat, ist natürlich eine tolle Sache. Richtig lohnenswert wird das aber für Vennart selbst wohl nur, wenn das auch seine Patreon-Mitgliedschaften oder Bandcamp-Verkäufe ankurbelt.
32. LL Cool J – The Force
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Dass ausgerechnet Sam Hanna alias James Todd Smith einen Fixplatz im Heavy Pop-Jahresrückblick sicher haben müsse, darauf hätte schon vor 2013 kaum jemand Wetten angenommen – seit Anfang September führt aber kein Weg daran vorbei: Das vierzehnte Studioalbum von LL Cool J ist nicht nur sein erstes seit elf Jahren, sondern auch eines das auf dem Treppchen der hauseigenen Top 3 steht und als natürlichste Sache der Welt 2024 ein Gros der Hip Hop-Community locker hinter sich lässt.
Einen Gutteil davon verdankt LL Cool J freilich der herausragenden Produktion von A Tribe Called Quest-Zauberer Q-Tip, der hier wahre eklektische Wunder vollbringt. Unter anderem auch jenes, Eminem im Jahr von The Death of Slim Shady (Coup de Grâce) für einen richtigen Killer-Track mitzunehmen. Das restliche Großkaliber-Schaulaufen – u.a. von Snoop Dogg, Fat Joe, Rick Ross, Sona Jobarteh, Saweetie, Busta Rhymes oder Nas – steht dagegen primär im Dienst des großen Ganzen. Also einem Album, das ohne biedere Altersschwäche wie ein aus der Zeit gefallenes Mahnmal für die Vorzüge klassischer Hip Hop-Platten gegenüber moderner Trend-Fließbandware wirkt.
31. Beth Gibbons – Lives Outgrown
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Lives Outgrown ist der Beweis dafür, dass es nicht die smarteste Idee ist, ein Beth Gibbons-Werk justament zum Einstieg in den Hochsommer zu veröffentlichen: Die Musik der noch 59 jährigen Ikone der Schwermut braucht Dunkelheit und Kühle, um zu reifen – nicht Sonnenlicht und Hitze.
Im den nun ausklingenden letzten Wochen eines starken Musikjahres hat das offiziell erste Soloalbum (eine Klassifizierung, die abseits der Zählweise bei aller Liebe auch die absolut prägende Mitarbeit von Produzent und Multiinstrumentalist James Ford sowie dem unendlich viel Persönlichkeit in seinem Spiel artikulierenden Zauber-Drummer Lee Harris explizit unter dem verdienten Wert verkauft!) einer über drei Dekaden dauernden Karriere dann nicht nur eine Mercury Prize-Nominierung eingefahren, sondern ist zu einem Begleiter angewachsen, der angesichts seiner immensen Klasse nicht enttäuscht, wiewohl er im Gegensatz zu (dem auf der Talk Talk-Achse subjektiv einfach als Vorgänger von Lives Outgrown wahrgenommen) Out of Season keine makellose Klassiker-Gravitation erzeugt.
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