Die Alben des Jahres 2024: 20 – 11
| HM | EPs | 50 – 41 | 40 – 31 | 30 – 21 | 20 – 11 | 10 – 01 | Playlisten |
20. Adrianne Lenker – Bright Future
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Es war auch ohne neues Studiomaterial ein geschäftiges Jahr für Big Thief. Mit dem Ausstieg von Bassist Max Oleartchik hat die so sehr auf ihr kollektives Gefüge ausgelegte Band einen markanten Einschnitt in ihrem klassischen (praktisch ausnahmslos für große und kleine Geniestreiche des Folkrock garantierenden) Lineup erfahren und Tucker Zimmermann dennoch bereits ein würdiges (Alters)Werk auf den Leib geschrieben.
Dass man diese Kooperation eventuell nicht wahrgenomen hat, wäre übrigens zu entschuldigen, weil Bright Future alles überdeckt haben kann, was 2024 sonst so am Big Thief-Radar passiert ist: Adrianne Lenker ist da ein in seiner intimen Umsicht aufwühlend-berührendes (und tracklisttechnisch nichtsdestotrotz optimierbares) Soloalbum gelungen, das mit dem umwerfenden Sadness as a Gift mindestens ein absolutes Karriere-Highlight zu bieten hat, und drumherum ein ungeschliffenes Juwel neben das andere zaubert.
(Nicht entschuldigen lässt sich allerdings, wenn man deswegen die auf andere, noch schlichter-spontane Weise bezaubernde, Bandcamp-exklusive Miniatur I Won’t Let Go of Your Hand oder den Beitrag zum – vor großen Namen nur so strotzenden! – Transa-Sampler übersieht.)
19. Ὁπλίτης – Παραμαινομένη
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Das am 12. Jänner veröffentlichte vierte Album von Liu Zhenyang als Ὁπλίτης war gut genug, dass der in Paris lebende Chinese in den folgenden Monaten des restlichen Jahres sowohl eine neue Theophonos-Platte, als auch mehr noch sogar die überraschende Rückkehr von Serpent Column – also jener für ihn so prägenden Band, ohne die sein Disso Black Metal-Projekt überhaupt gar nicht erst denkbar gewesen wäre! – praktisch selbstsicher aussitzen konnte: 2024 durfte sich in Contenance mit einem Album begnügen, anstatt wie 2023 gleich drei als Statement loszulassen.
Ὁπλίτης hat sich mittlerweile aber auch zu einer monolithischen Größe aufgeschwungen.
Der Sound, das Songwriting und die Performance einer Ein-Mann-Armee (die eben nicht aus Griechenland kommt, wie mittlerweile weitläufig bekannt ist) greift über 53 so komplette Minuten mit progressiven Ambitionen und avantgardistische Manierismen nach den auslaufenden Extremen, während der rockende Thrash in diesem trojanischen Pferd die Zügel eng hält.
Aus dem einstigen Epigonen und Schüler ist ein Meister mit individueller Handschrift geworden. Die Spielregeln und Maßstäbe bestimmt aktuell er alleine.
18. Knoll – As Spoken
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Knoll prügeln ihren Death Grindcore auf As Spoken aus der Hölle kommend durch ein Portal in den dissonanten Black Metal. Und finden damit ein gutes Stück weit zu sich selbst.
Hässlich, gemein und zutiefst misanthrop war der Sound der Band ja immer schon, vom Sludge und Noise besessen. Nun aber ist das wahrhaft Böse im innersten der Band erwacht. Das Tennessee-Quintett richtet seine aggressiven Spannungen und die technische Komplexität ebenso nach Innen wie nach außen, suhlt sich röchelnd in einer klaustrophobischen, dämonischen Atmosphäre, die dem schizoiden Eklektizismus mit avantgardistischer Neigung und individueller greifenden Kompositionen endgültig zur eigene Handschrift verhilft.
Daran, dass As Spoken im Magen modert, haben Knoll hart gearbeitet („Melodic lines are frequently performed backwards or temporally offset from each other in stereophonic space, and harmonized in nonsensical interval patterns to perpetuate unease“), weswegen dieses Drittwerk auch knapp zwölf Monate nach seinem Release noch nicht verdaut ist. Vielleicht nie ganz verdaut werden wird.
17. Panzerfaust – The Suns of Perdition – Chapter IV: To Shadow Zion
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Dafür, dass sie sich nicht in eine Reihe mit u.a. Limp Bizkit, The Paper Chase, The Soundtrack of Our Lives und den Beastie Boys stellen würden, haben Panzerfaust schnell gesorgt, indem sie The Suns of Perdition – Chapter I: War, Horrid War nach knapp einem Jahr bereits Render Unto Eden nachfolgen ließen. Dass die Kanadier mit den beiden noch ausstehenden Werken ihrer Konzept-Tetralogie in qualitativer auch an diesem Chapter II scheitern können würden, war eine Möglichkeit, die viele Anhänger des Black Metal-Quartetts anhand des polarisierenden dritten Kapitels der Reihe wohl bereits als fix gezogen betrachteten.
To Shadow Zion kann in seinem Stellenwert für die gesamte Diskografie der Band deswegen wohl kaum hoch genug eingeschätzt werden. Immerhin gelingt es den 45 Minuten nicht nur, den vorangegangenen Teil in Relation für das große Ganze neu zu positionieren und ihn dabei zusätzlich aufzuwerten, sondern mit einem überragenden Finale, das ausnahmslos verbrannte Erde hinterlässt, auch unabhängig vom restlichen Gefüge eine monolithische Machtdemonstration abzuliefern, an dessen mächtiger Imposanz sich das Gros der Szene messen lassen muss.
16. Zach Bryan – The Great American Bar Scene
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Auch wenn Zach Bryan in den vergangenen Monaten vor allem durch die Trennung von Brianna Chickenfry in der Regenbogenpresse seine Runden zog, es zudem auch Wirbel machte, dass er (in einem Jahr, wo wirklich jeder mit dem Trendprodukt Country Album reüssieren wollte) seine Musik durch die Kategorisierung der Grammy Nominierungen zu eng klassifiziert sah, und diese daraufhin verweigerte, können all diese Nebengeräusche nicht von der eindrucksvolle Qualität von The Great American Bar Scene ablenken.
Auf seinem fünften Album seit 2019 versammelt der 28 jährige schließlich 19 Songs entlang zahlreicher hauseigener Instant-Klassiker, für die die Schublade Country tatsächlich zu eng greift. Bryan münzt sein limitiertes technisches Können aus dem überschaubaren Pool an Melodien in zeitloses Material zwischen Americana, Singer-Songwriter, Red Dirt und Heartland Rock um und lockt damit sogar Boss Springsteen höchstpersönlich an. Dass der heimliche Tribute Sandpaper ein Treffen auf Augenhöhe ist, spricht für das Niveau von The Great American Bar Scene – einem Album, auf das andere ein Leben lang hinarbeiten würden, während Bryan es wie im Vorbeigehen erledigt.
15. Joey Valence & Brae – No Hands
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Bitte nicht vom Artwork abschrecken lassen, das aussieht, als würden The Offspring gerade ein Spin Off zu Original Prankster drehen.
Die Wahrheit ist: Hinter der bunten Comedy-Fassady haben Joey Valence & Brae beinahe im direkten Anschluss an ihr schon für viel Furore sorgendes offizielles Debütalbum Punk Tactics das Hip Hop-Werk mit dem höchsten Unterhaltungswert 2024 aufgenommen, das tatsächlich so viel mehr kann, als selbst die nominellen Hochkaräter (von Kendrick Lamar, Tyler, The Creator, Schoolboy Q, JPEGMAFIA, Denzel Curry, Mach-Hommy…und wer sonst noch in diesem vollgepackten Mega-Jahrgang abseits von Kanye West abgeliefert hat).
Etwa mit Danny Brown den ultimativen Post-Beastie Boys-Augenblick zu stemmen oder mit Z-Trip einer umwerfenden 90er-East Coast-Nostalgie frisches Leben in der smoothen Lounge einzuhauchen. Oder Boom Bap, Dub, DnB, 00er-Raves in die Manege werfen…alles geht hier klar – und macht Sinn!
Auch, weil sich selbst beim drölgzigsten Durchgang nichts abnutzt und man dabei über die immer wieder herrlich debil sein könnenden Texte der Platte („If you hand me a bagel, I’ma eat that shit/ If you hand me a Beyblade, I let it rip“) ebenso grinsen kann, wie man anderswo die Tiefgründigkeit schätzen lernt: „MFs be doomed, I’m not even tired/ Keeping up rapping ‚til I am retired/ Watched „Marley & Me“ just for a good cry/ Yeah, just for a good cry/ And I don’t even have another bar right now, I just, I just wanted to say that“.
14. Nails – Every Bridge Burning
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Darüber, wie extrem heftig, zornig und aggressiv die notfalls alles und jeden und auch sich selbst schonungslos zerfleischende Powerviolence/Grind-
Was aber niemals derart offenkundig wie in den 18 Minuten dieses Comebacks war, ist der Umstand, dass Todd Jones sich diese Plakativität leisten kann, weil er richtige Songs (!) schreibt und diese eine solche Rücksichtslosigkeit in der Attitüde substantiell überhaupt erst tragen. Zumal er diesmal sogar waschechte Hits liefert. Gewissermaßen.
Auf regelrecht konventionelle Weise eingängiger als mit der Axe to Fall-Verneigung Give Me the Painkiller waren Nails jedenfalls nie zuvor, während drumherum vieles greifbarer und ja, auch simpler angelegt wütet. Was macht es da schon, dass Jones mit dieser Modifikation im weitesten Sinne dasselbe Album wie 2016 nochmal aufgenommen hat?
13. 40 Watt Sun – Little Weight
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Das – bitte absolut relativ zu verstehen! – schwächste Album von Patrick Walker seit dem 1999er Warning-Debüt The Strength to Dream beginnt mit dem vielleicht sogar schönsten Song seiner Karriere: „Leave your careless treasure/ Leave them all behind/ Come closer to the window/ We’re in the only light“ singt der Brite in Pour Your Love und bringt dabei alle Tugenden von Little Weight auf den Punkt.
Da ist die ergreifende Magie, die Perfect Light im Jahr 2022 zu einem Album für die Ewigkeit gemacht hat – aber mit einem friedenschließenden Blick in die eigene Vergangenheit (indem die zartschmelzenden Gitarren die Heaviness von zumindest Wider than the Sky wiederentdecken) und einem nach vorne: optimistischer und versöhnlicher war Walker noch nie.
Besser wird Little Weight nach diesem Opener nicht mehr, schlechter allerdings auch höchstens bedingt: die emotionale Hebelwirkung von 40 Watt Sun bleibt (wofür mittlerweile übrigens Pallbearer als passender Indikator dienen) auch abseits der Ideallinie unvergleichbar.
12. Slowhole – Slowhole
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Dass Slowhole aus der Nachbarschaft von Thou kommen, klären (neben der gemeinsame Tour der vergangenen Wochen) schon die ersten Sekunden von Something is Happening to Me – und die restlichen rund 35 Minuten dann, warum die Gitarristen David Hunter und Dante Galliano, Bassist Joey Laborde, Drummer Mateo Molina und Frontfrau Shannon Arsenault sich mit ihrem Debüt auch darüber hinausgehend als eine der heißesten Zukunftsaktien der Szene positionieren.
Der Sludge wischt den grindigen Dreck vom Blackgaze und Proto-Grunge in den harsch im Feedback wattenden Noiserock, erzeugt mit einem unablässig kreischenden Tinnitus eine psychedelische Heaviness, deren von The Body bis Reversal Of Man reichender Eklektizismus mit der rund zehnminütigen Torture-Orgie Birther als Krönung etwas süchtig machendes, faszinierend kathartisches erbricht: Dieses selbstbetitelte Ungetüm der Agonie klingt wie ein Geschwür, das Slowhole sich einfach abringen mussten.
Einziger Schönheitsfehler in dieser Hässlichkeit: Sich Slowhole physisch ins Plattenregal stellen zu können, kommt außerhalb von New Orleans und etwaiger verwüsteter Tourstopps aktuell noch einem Lotto-Sechser gleich.
11. The Smile – Wall of Eyes
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Ja, das The Smile-Jahr war eines mit der einen oder anderen Enttäuschung. Aber die heuer veröffentlichten 8+10 Songs derBand gehören nicht im Mindesten dazu.
Freilich: Hätten Thom Yorke, Jonny Greenwood und Tom Skinner die Geduld gehabt, all das seit A Light for Attracting Attention (2022) entstandene Material zusammenzuhalten und schlüssiger zu selektieren, hätte sich daraus subjektiv ein Meisterstück und sein beeindruckend ausschweifender Trabant formen lassen.
Dass die früher vollendeten Songs von Wall of Eyes vorauspreschen mussten, nur um wenige Monate später von Cutouts eingeholt zu werden, bedeudet aber nur, dass die Welt nun stattdessen eben mit zwei überragenden The Smile-Alben innerhalb eines Kalenderjahres dasteht. Damit kann man besser leben, als mit Tour-Absagen oder debil limitierten Veröffentlichungen.
Mehr noch: Dass man nicht nur bei dem für sich etwas besseren Wall of Eyes mit all seinen genialen Sternstunden (obwohl Cutouts ja Eyes & Mouth an Bord hatte) immer noch stets an die Stammband von Yorke und Greenwood denken darf, während The Smile mittlerweile so viele Dinge machen, die im Kontext von Radiohead wohl tatsächlich gar nicht möglich wären, kann durchaus als Ritterschlag für das Trio gelten. Spätestens mit ihrem Zweitwerk haben die Briten an ihrem eigenen Denkmal außerhalb des großen Schattens zu arbeiten begonnen.
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