Die Alben des Jahres 2024: 10 – 01

von am 30. Dezember 2024 in Jahrescharts 2024

Die Alben des Jahres 2024: 10 – 01

| HM | EPs | 50 – 41 | 40 – 31 | 30 – 21 | 20 – 11 | 10 – 01  | Playlisten |

Johnny Blue Skies - Passage Du Desir10.
Johnny Blue Skies

Passage Du Desir

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Rund zwei Jahre vor Ablauf des selbst prophezeiten Ultimatums, der größte Country Star des Planeten zu werden, biegt Sturgill Simpson geschmeidig ab, (er)findet seine Stimme wieder und sich selbst als Johnny Blue Skies ein gutes Stück weit neu. Mit viel Soul im gar nicht so unsoften Rock. Mit R&B-Entspannung und orchestral schwelgenden Sehnsüchten samt psychedelischen Pink Floyd‘ismen. Das führt zu zeitlosen Songs und einer Band-Platte, die unendlich viel Gefühl in der Performance zeigt – gerade das Finale One for the Road hätte so gerne ewig in den Jam weiterwandern dürfen!
Das einzige Manko der Platte ist deswegen tatsächlich jenes , dass 41 Minuten viel zu rasch vorüber sind und man sich einfach nicht an Passage Du Desir satt hören kann. Aber auch über die Tatsache, was für ein toller Gitarrist der ehemalige Dick Daddy Sturg doch immer noch ist, wird zuwenig Wirbel gemacht. Aber was soll man machen, wenn selbst Barack Obama lieber am Strand zum Flip Flop-flanierenden Scooter Blues chillt?

Godspeed You! Black Emperor - "NO​ ​TITLE AS OF 13 FEBRUARY 2024 28​,​340 DEAD"09.
Godspeed You! Black Emperor

„NO TITLE AS OF 13 FEBRUARY 2024 28,340 DEAD“

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Was für ein Kontrast zwischen diesem Statement von einem Albumtitel und der bewährten Godspeed-Formel dahinter. Das kanadische Kollektiv von Efrim Manuel Menuck spielt diese nämlich in einen Taumel aus bisher ungekannter Zuversicht – voll vergleichsweise optimistischer Melodien und hoffnungsvoller Arrangements, während ein überraschend straightes, griffiges Songwriting die instrumentalen Postrock-Epen das gleissende Licht typischer Höhepunkte finden lässt.
Diesen Hang zur relativen Zugänglichkeit innerhalb der eigenen Bezugspunkte bringt „NO TITLE AS OF 13 FEBRUARY 2024 28,340 DEAD“ durchaus auf eine gemeinsame Basis mit einigen anderen Platten in den Top Ten der heutigen Jahrescharts, wo Godspeed in ihrem musikalischen Universum jedoch expliziter den nonverbalen Kommentar zu einer aktuellen Lage der Welt in einer Art dystopischen Form des fantastischen Realismus suchen.
Ganz unpolitisch betrachtet ist die Sachlage für Godspeed You! Black Emperor abseits einfacher Lösung jedoch eigentlich relativ simpel: Zwei Jahre nach der Archiv-Sichtung All Lights Fucked on the Hairy Amp Drooling und drei nach der Rückkehr zur Form mit G_d’s Pee AT STATE’S END! (2021) prolongiert das achte Album der Band die zuletzt steigende Qualitätskurve vehement. Näher dran an dem Niveau ihrer ersten Lebensphase waren Menuck und Co. seit dem Comeback ‚Allelujah! Don’t Bend! Ascend! (2012) nicht.

Melt-Banana - 3+508.
Melt-Banana

3+5

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3+5 bedeutet umgerechnet, 5731200 Minuten Wartezeit mit 24 Minuten Musik an neuer Melt-Banana-Musik aufgewogen zu bekommen. Ein Top-Deal!
To be honest, it doesn’t feel like it took over ten years. It was more like we finished and realized ten years had passed. It feels like we were creating music in a different dimension where time flowed differently. Making an album is always challenging, and it seems to take longer with each album we release“ sagt Yako, doch der Nachfolger des im Oktober 2013 erschienenen Fetch meistert diese Schwierigkeiten mit einer beeindruckenden Leichtigkeit.
3+5 addiert mehr Synths in den vor Videogame-Gitarren und hyperventilierend piepsendem Gesang dominierten Sound der Band, der diesmal wieder ein wenig anorganischer ausgefallen ist („but we Like the feeling of being a rock band, so we kept the guitar and vocals more human“), kocht die Essenz und Einzigartigkeit der Band mit einem absoluten Enthusiasmus in ihr bisher effektivstes Album ein.
Every day, I’m thinking about music in some way, and when I look at my phone in the morning, there are always messages related to the band activity from someone, so stopping would be really difficult. Creating music and touring is incredibly enjoyable.“ So klingt 3+5, dessen Mehrwert sich mit nüchternen Zahlenspielen niemals erfassen lassen wird.

07.
Thou

Umbilical

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Rund acht Monate nachdem I Feel Nothing When You Cry die perfekte Vorabsingle gegeben hat, um in den Hype-Modus für den Magus-Nachfolger zu versetzen, beinhaltet die Nummer mit etwas Abstand auch die einzige Passage von Umbilical, die subjektiv betrachtet verbessert werden könnte: Indem der so direkt angelegte (und dennoch immer noch beunruhigende Details wie die unheimlich flüsternden Backing-Vocals im Mix neu entdecken lassende) Instant-Signature-Song um zumindest eineinhalb Minuten seiner finalen, strukturell redundanten Ehrenrunde gekürzt worden wäre; auch, um die punkige Attitüde der Nummer noch einmal schärfen würde.
Doch sei es, wie es sei. Auch so ist I Feel Nothing When You Cry das Aushängeschild, das den Charakter des sechsten Studioalbums der Nola-Gang auf ein Podest hebt.
Thou haben ihren Sound entschlackt, durch (nach wie vor auch überraschen könnende) Solo-Projekte und Cover-Compilations der vergangenen Jahre massiv Fett abgewetzt, und eine pointierte Prägnanz gefunden, die mit dem Blick zu den Wurzeln der Band über deren Grunge-Vorlieben eine neue Schmissigkeit erzeugt. Praktisch jeder Song der Platte hat zudem zumindest einen genial zündenden Augenblick, den man euphorisch feiern möchte – am besten natürlich live.
Insofern gilt: Dass es leider nicht das mutmaßlich gesamte für Umbilical geschriebene Material auf das Album geschafft hat (wobei: abwarten, ob da nicht ohnedies nur ein Missverständnis herrscht), kann man Thou zwar noch verzeihen. Dass die anstehende Tour das nominelle Sextetts wieder einmal nicht in die näheren Umgebung führen wird, schon weniger.

Magdalena Bay - Imaginal Disk06.
Magdalena Bay

Imaginal Disk

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Die „What‘s their Billy Jean?“-Gretchenfrage könnte dem aus dem Progrock umgesattelt habenden Pärchen Mica Tenenbaum und Matthew Lewin durchaus ein Lächeln in die Gesichter zaubern: mit Ausnahme der beiden Interludes (und dem leicht abfallenden Tunnel Vision) ist es praktisch unmöglich, einen Song auf Imaginal Disk zu finden, der kein Endorphine produzierender Hit mit fixem Abonnement auf zukünftigen Best Of-Compilations des Duos ist.
Allerdings wiegt das Zweitwerk von Magdalena Bay als Ganzes sogar mehr als die Summe dieser Teile. Auf ein futuristisch konzipiertes Konzeptalbum geeint – modern, aber fern gimmickhafter Trends auf ein fast wertkonservatives Songwriting gestützt, das in den 80ern ebenso umwerfend funktioniert hätte, wie es zweifelsfrei auch in 20 Jahren noch ohne Staubschicht begeistern wird – sind die 54 Minuten der Platte auf ihre Basis heruntergebrochen betrachtet die unbedingte Optimierungsarbeit einer Band, die seit 2019 Ohrwürmer garantiert, dieses Können nun aber auf einem ganz neuen Niveau der Perfektion zelebriert: infektiös, süchtig machend, relativ resistent gegen die Abnutzung in der Heavy Rotation, sorgsam ausgeführt und zeitlos.
Also Brat-Summer hin oder her: Imaginal Disk ist das wahrhaftige Konsens-Pop Album des Jahres. Mindestens.

Ulcerate - Cutting the Throat of God05.
Ulcerate

Cutting the Throat of God

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Den in ihren konstanten Evolution nicht erst mit Stare Into Death and Be Still (2020) konkretisierten Schritt von Ulcerate, um ihren unkompromittierbaren Sound…“zugänglicher“ anzubieten, treibt Cutting the Throat of God in einem (von Pyrrhon bis Selbst) bestechenden Jahrgang für Disso-Charaktere auf den bisherigen Schaffens-Zenit der Neuseeländer.
Sicher kann man dort andächtig staunend darüber rätseln, was am beeindruckendsten am siebten Studioalbum des Trios ist. Das Technik und Progressivität in schlüssiger Synergie zusammenbringende Songwriting ? Die atemberaubende, unglaubliche Schlagzeugarbeit, die über der allgemeinen instrumentalen Virtuosität thront? Die einzigartige Atmosphäre, die den Sound der Band jenseits der Härte und Brutalität auffaltet und Ulcerate wie eine tranceartige Änderung des Bewusstseinszustand über den Hörer hereinbrechen lässt?
Tatsache ist jedenfalls, das Cutting the Throat of God für den normalsterblichen Zeitzeugen praktisch keine Schwächen in einer so konstant einzigartigen Diskografie offenbart. Wo hier noch Optimierungspotential herrscht, werden (dem Gesetz der Serie folgend) erst und alleine Ulcerate selbst mit dem Nachfolge-Album aufzeigen.

04.
BIG|BRAVE

A Chaos of Flowers

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Die poetisch durch den Slowcore und Doomgaze streifenden Drone-Balladen von A Chaos of Flowers ernten, was Leaving None but Small Birds (2021) und Nature Morte (2022) gesät haben: Das siebte Studioalbum der Band vermittelt das Gefühl von Ewigkeit.
BIG|BRAVE wandern (mit Seth Manchester, Tashi Dorji, Marisa Anderson und Patrick Shiroishi als Begleitern) wie melancholisch abgekämpfte Geschichtenerzähler durch eine alte, vergessene Welt der dunklen Mythologie. Robin Wattie adaptiert dazu Gedichte von Emily Dickinson, Akiko Yosano, Renée Vivien, Esther Popel oder Emily Pauline Johnson: „The moon is sinking into shadow-land/ The troubled night-bird, calling plaintively/ Wanders on restless wing/ …/ Oh soft voices of the night/ I join your minstrelsy/ And call across the fading silver light/ As something calls to me/ I may not all your meaning understand/ But I have touched your soul in shadow-land“.
Es ist eine meditative, weise und sogar ein wenig magische Transzendenz und Geduld, die von den Kanadiern mittlerweile ausgeht, gerade live,  indem sie ihren einst nach purem, massiven  Volumen strebenden Sound eine intime Verletzlichkeit beigebracht haben. Auch weil, man kann es gar nicht oft genug erwähnen, (der heuer sowohl mit Bandprojekten als auch Solo triumphierende) Mat Ball der aktuell wohl beste Gitarrist seiner Zunft ist.

03.
Cindy Lee

Diamond Jubilee

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Der ehemalige Women-Sänger Patrick Flegel schürft die Pop-Ader seines Alter Egos Cindy Lee ab. Mit einem ausfallfreien Doppelalbum, das wie die traumhafte Fantasie von David Lynch in einem unwirklichen 50er Jahre-Setting mit entrückten Beach Boys-Schönheiten als Soundtrack schwelgt, und im Verlauf von 32 hypnotisch den Hintergrund ausfüllenden Nummern (oder knapp zwei Stunden kurzweilig verfliegender Spielzeit) anachronistische Juwelen wie den Übersong All I Want Is You aus dem Unterbewusstsein zaubert – als könnte man sich plötzlich an Ohrwürmer erinnern, die man körperlos im Äther aufgeschnappt und nach der Geburt wieder vergessen hat.
Dass das nebulöse Diamond Jubilee simultan zu seiner einnehmenden, angenehm betörenden Leichtgängigkeit auch eine vehemente Verweigerungshaltung vertritt – das erst im kommenden Jahr physisch erscheinende Album ist nur via Bandcamp und Geocities zu hören und der kurzzeitige, letztlich nicht offiziell abgesegnete Upload auf Spotify wurde umgehend wieder entfernt – trägt zusätzlich zur Unnahbarkeit eines mystischen Enigmas bei, wie es die heutige Musiklandschaft eigentlich selbst in zwilichtigen Nieschen gar nicht mehr gebären kann.

The Cure - Songs of a Lost World02.
The Cure

Songs of a Lost World

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Man kann über ästhetische Entscheidungen wie den Snare-Sound oder die Dosen-Streicher im unendlich schönen And Nothing Is Forever sicher ebenso diskutieren, wie darüber, ob sich durch eine andere Selektion bereits bekannter Songs nicht ein noch besseres Album aus dem Pool an Material kompilieren hätte lassen, an dem Robert Smith seit einer gefühlten Ewigkeit feilt.
Doch das einzige, was wirklich zählt, ist die Tatsache, dass Songs of a Lost World zu guter Letzt endlich erschienen ist.
Dass die Veröffentlichung wohl eine mentale Sperre bei Robert Smith geöffnet und – da will man dem stimmlich beeindruckend alterslosen 65 jährigen nicht mehr ganz vertrauten – insofern einen Damm brechen hat lassen, dass die nächsten The Cure-Alben bereits in Position gebracht sein sollen, ist freilich auch fein, sicherlich. Aber wichtiger ist natürlich, dass die versammelten 49 Minuten die mit zunehmendem Abstand zum 27. Oktober 2008 immer weiter gewachsene, durch fabelhafte Touren und tatenlos verklingende Ankündigungen genährte Mischung aus Vorfreude, Ungeduld, Erwartungshaltung und Anspruch ansatzlos stemmen. Ja, diese Rückkehr ist alles (und kann alles) was man sich von ihr erhofft hat.
Ein Vorwurf, weil Songs of a Lost World dabei (zumindest bis auf weiteres – die Zeit hat ja bisher jedem Album der Briten gut getan!) kein Klassiker auf Augenhöhe mit den unsterblichen Klassikern Disintegration und Pornography geworden ist, wäre absurd: Ungefähr so klingend, als wäre Bloodflowers ein aus den Archiven geholtes 80er-Album, nimmt das Comeback des Jahres (nichts für ungut, Oasis!) in der überragenden Klammer aus Alone und Endsong einen verdienten, ohne Ablaufdatum versehenen Platz in der zweiten Reihe einer beispiellosen Diskografie ein.

You Won't Go Before You're Supposed To by Knocked Loose01.
Knocked Loose

You Won’t Go Before You’re Supposed To

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Durchaus möglich, dass die zweitplatzierte Platte in dieser Liste letztendlich den längeren Atem als das einzige vor ihm liegende Album beweisen wird. Aber zumindest für den (mittlerweile auch schon über sieben Monate dauernden) Augenblick ist das vollkommen egal. Denn das Momentum, das You Won’t Go Before You’re Supposed To mit einer unbändigen Energie generiert, um in der Intensität durchaus an Relationship of Command oder The Shape of Punk to Come zu erinnern, nimmt keine Gefangenen und reißt 2024 schlicht und einfach alles andere nieder.
Jedes Element greift dafür ineinander, potenziert sich.
Der auch im Hip Hop geschulte Produzent Drew Fulk (alias WZRD BLD) hat der mittlerweile als Quintett aus den Vollen schöpfenden Band aus Louisville einen erschlagend dichten Sound auf den Leib zementiert, der den Grenzen im Metal-, Beatdown Hard- und Deathcore alle Luft aus den Lungen drückt, und das Trademark-Amalgam aus Bryan Garris‘ polarisierender (und nunmehr sowohl von Isaac Hale als auch Nicko Calderon flankierten) Stimme, tonnenschweren Riffs und dem einfallsreichsten Schlagzeuger der trendbewussten Szene auf den nächsten Level hievt.
Dazu schreiben Knocked Loose die Songs ihres Lebens, machen auf 27 Minuten komprimiert Bock ohne Ende und räumen für eine kompromisslose Radikalkur von einem Drittwerk mit dem Rückenwind fast absurd explodierender Live-Shows auf ganzer Linie ab.
Wo die erste Grammy-Nominierung der Bandhistorie Hand und Hand mit gut kalkulierten Aufregern im landesweiten US-Fernsehen geht, gehört das Jahr 2024 also ohne Wenn und Aber so absolut eindeutig den jedweden Hype rechtfertigenden Knocked Loose.


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