Die Alben des Jahres 2023: 10 – 01
| HM | EPs | 50 – 41 | 40 – 31 | 30 – 21 | 20 – 11 | 10 – 01 | Playlisten |
10.
Sprain
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The Lamb as Effigy
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Ironie des Schicksals? Justament, als Meister Gira sich ein abgekämpftes „When the other has come/ Then Michael is done/ Is done, is done…“ abrang, und man besagten „the other“ schon zwangsläufig in Alex Kent und seiner mit (Luft holen!) The Lamb As Effigy, or Three Hundred And Fifty XOXOXOS For A Spark Union With My Darling Divine in vielerlei Hinsicht so furios zu veritablen Swans-Eben herangewachsenen Band Sprain zu erkennen glauben musste, zog der Chef-Exzentriker (selbst für [Ex-]Kollegin April “I was kicked out of sprain three weeks ago and i have no idea what’s up with today’s announcement.“ Gerloff überraschend) einen (irritierend pluralistisch artikulierten) Schlussstrich: „We have decided that there is no longer a logical path forward for the band Sprain. Thank you all very much for the constant support over the years. We will cherish those memories forever!“
Eine Impulsivität, die sich gleichzeitig gar nicht und doch auch absolut mit dem improvisiert-konstruierten Eklektizismus in Einklang bringen lassen will, den Sprain auf The Lamb As Effigy als theatralisch sprechsingende Überdosis aus allem, was im Spannungsfeld aus experiementell veranlagten Noise Rock, prätentiösem Post Punk und avantgardistischem No Wave eine Kunsthochschule besuchen kann, hochgezogen haben. Als konsequent schlüssiges Paradoxon fühlt sich das zweite Studioalbum der Kalifornier nicht nur wie ein alleine in seinem Volumen erdrückendes Opus Magnum an, nach dem eigentlich alles gesagt ist, wie dennoch mittels genug loser Stellschrauben Luft nach oben lassen, um es beinahe gewiss scheinen zu lassen, dass Kent mit seinem nächsten Projekt wohl direkt hieran anschließen wird.
09.
Soastasphrenas
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Moirae
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349 Tage lang konnten Soastasphrenas den am 6. Jänner losgetretene Vermutung befeuern, es bei Moirae mit dem wohl besten Album zu tun haben zu würden, dass im Jahr 2023 von der Kette in die Wildnis des Screamo und Emoviolence gelassen wird.
Und das, obwohl im weiteren Verlauf der darauffolgenden Monaten wahrlich keine schwachen Konkurrenz-Werke veröffentlicht wurden. Von Bands, deren Namen man problemloser aussprechen konnte und deren Alben man sich tatsächlich ins Plattenregal stellen konnte, anstelle zu limitierten Kassettenaufnahmen nachzutrauern.
Doch so räudig Moirae in seinen impulsiven Augenblicken eine wirklich unbändigbare Leidenschaft und Energie entfacht, in den ruhigen durch eine melancholisch machende Schönheit fast in melancholischer Hysterie entsetzt, jonglieren die Berliner hier eben mit einer alles anderen in den Schatten stellenden Wucht, die dann seit seinem Erscheinen durch die exzessive Auseinandersetzung mit diesen 22 Minuten doch etwas in der Wahrnehmung des Soastasphrenas-Debüts geändert hat: mit jedem Durchgang meint man klarer zu erkennen, dass man es hierbei mit einem modernen Klassiker des Genres zu tun haben könnte.
08.
Kali Malone
–
Does Spring Hide Its Joy
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Does Spring Hide Its Joy ist kein Album, dem man sich leichtfertig ausliefert: 3 Tracks über mehr als ebenso viele Stunden fangen eine maximale Wirkung minimalistischer Drone-Majestät entlang mikroskopisch verschobener Frequenzen und niemals greifbarer Klassik- und Soundtrack-Expertise ein.
Eine zehrende Meditation, in der Form und Inhalt Hand in Hand gehen: Wo in der Musik (nein, dieser Begriff passt hier eigentlich kaum – eher: betörende Geräusch-Kulisse!) neben dem Verfolgen ewig gehaltener Schwingungen eines einzelnen Tons augenscheinlich nicht viel passiert, geschieht mit einem selbst dafür aber umso mehr – eine Variation des Beobachtereffekts!
Malone („tuned sine wave oscillators“) füllt mit Sunn O)))-Kutte Stephen O’Malley (Electric Guitar) und Cellistin Lucy Railton als Begleitern die Gedanken und hüllt physisch ein, sagt „The music is a study in harmonics and non-linear composition with a heightened focus on just intonation and beating interference patterns“ und macht die Monotonie in einer solch sachlichen Ereignislosigkeit zum hypnotischen Mantra, dass Does Spring Hide Its Joy wie nur wenige Alben auf einer meditativen Ebene funktioniert.
Dass sich das mittlerweile verheiratete Paar Malone und O’Malley zu einem wahren Power Couple mausert, legen die ersten Ausblicke auf All Life Long nahe: das Werk der Wahl-Schwedin scheint durch ihr 2023er-Opus Magnum auf einen neuen Level gehoben worden sein.
07.
Ὁπλίτης
–
Τρωθησομένη
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Der 23 jährige chinesische Linguist und Griechenland-Fan Liu Zhenyang hat seine beiden Spielwiesen Vitriolic Sage (für das mit 梦路 aber auch noch Zeit blieb) und ὁπλίτης die Positionen tauschen lassen, was die Rolle als bisheriges Haupt- und Nebenprojekt angeht und die mittlerweile gemeinhin als Hoplites (was, laut Wikipedia, soviel wie Schwerbewaffnete Angehöriger der Haupttruppe der griechischen Heere der archaischen und klassischen Zeit bedeutet) bekannte Ein-Mann-Band für eine Album-Trilogie auf eine eklektische Reise geschickt.
Diese beginnt auf Ψευδομένη und findet über Τρωθησομένη zu Ἀντιτιμωρουμένη, beschreitet dabei einen Spannungsbogen, der assoziativ aus (einen Schatten auf Theophonos eigenen Neustart werfenden) Serpent Column-Worshipping mit Vektor’esker Versiertheit und Deathspell Omega-Giftigkeit hin zur Psychedelik von Oranssi Pazuzu wächst, und den Tech-Disso-Death-Thrash als großes Spektakel mit einem kompakten Zug zum Tor zelebriert.
Um nicht ein Drittel der Top Ten von diesem prägenden Triumphirat-Lauf in Beschlag nehmen zu lassen, fungiert der Mittelteil des Triptychons in seinem Status als bisheriger Schaffenszenit als verdienter Platzhalter für den diesjährigen Output von von ὁπλίτης.
06.
King Gizzard & The Lizard Wizard
–
PetroDragonic Apocalypse
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Fun Fact: mit Ende 2023 haben King Gizzard & The Lizard Wizard beinahe gleich viele Studioalben am Konto, wie die restlichen Top 10 dieser Liste zusammengenommen.
Dass praktisch jedes einzelne dieser mittlerweile 25 Platten nebst der für sich selbst sprechenden, immer überzeugenden Qualität auch jene nötigen neue Impulse setzt, um die Sache mit dem Blick aufs große Ganze nie langweilig werden zu lassen, ist eine Pointe, die auch Platte Nummer 26 der Australier sehnlichst erwarten lässt.
Zwischen den zwei besten Live-Alben des Jahres (wobei vielleicht wohl eher richtig: mindestens dieses Jahrzehnts?) in Form der Mega-Mitschnitte aus dem Red Rocks 22 Amphitheater sowie Chicago 23, und einem ohne ironischen Bruch auskommenden Techno-Trip in die rappende Elektronik (The Silver Cord als Yang zum Vorgänger-Yin) haben Stu & Co. mit (Achtung, schon wieder Luft holen!) PetroDragonic Apocalypse; or, Dawn of Eternal Night: An Annihilation of Planet Earth and the Beginning of Merciless Damnation mehr als nur die Optimierung der Versprechen von Infest the Rats‘ Nest aufgenommen: in Down Under wütet es, als müsste High on Fire-Thrash-mit proggigen Tool-Zitaten Schlitten fahren und mit Kohärenz, Spielfreude und Intensität entlang vogelfreier Gitarren-Abfahrten einfach nur hemmungslosen Spaß machen, anstatt die Aggressivität im Metal zu unterstreichen. Da wird der Pit zur Party!
05.
Blur
–
The Ballad of Darren
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Umrundet von den Trabanten Cracker Island, Radio Songs und The Waeve überwiegt auch mit rund einem Jahr Abstand zum Release-Termin von The Ballad of Darren nicht der Ärger darüber, dass Blur das fabelhafte Trio aus The Rabbi, The Swan und Sticks and Stones kurzerhand als Bonustracks verbraten haben, anstatt es in das kürzeste Album der Bandgeschichte zu integrieren und damit auch das unausgegorene Sequencing (das eine höhere Positionierung hier vereitelt, wo die Platte in der für den persönlichen Gebrauch umjustierten Tracklist auf Platz 2 der Charts stehen würde) runder zu gestalten.
Sondern die Freude darüber, dass die Briten auf ihrem zweiten Langspieler seit dem Comeback mit The Magic Whip (20175) flankiert von der den Sommer einleitenden und nie mehr aus der Heavy Rotation verschwinden wollenden Single The Narcissist eine so selbstverständliche Lockerheit im Umgang mit ihrem ikonischen Status zeigen: die Instant-Fan-Favorites geben sich (auf dem meistgehörten Album des Jahres) die Klinke in die Hand, ohne dass sich Blur der selben Kritikpunkte angreifbar machen würden, die Damon Albarn jüngst über die Rolling Stones ätzen ließ, bevor er über seine eigene Stammgruppe vor einer neuen Auszeit lapidar nachschiebt: „It’s time to wrap up this campaign. It’s too much for me.“
Wenn hiernach tatsächlich endgültig Schluss mit Blur sein sollte, wird nur die Erinnerung daran bleiben, dass es ein Ende in Schönheit war. Mit diesem Ausblick bereiten The Heights mehr Gänsehaut denn je.
04.
Closet Witch
–
Chiaroscuro
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Grindcore erlebt weiterhin eine euphorisierende Renaissance, der Strom an herausragenden Genre-Veröffentlichungen reißt zumindest seit mehr als einem Jahr einfach nicht ab.
Dass Coronet Juniper im Vorfeld mit am meisten Euphorie erwartet wurde, lag da mit mit der bisherigen Geschichte der für ein letztes Hurra zusammengefunden habenden Band nur auf der Hand. Doch flankiert von Attacken wie The Weight of Being oder 1.8.7. Myself musste man jedoch auch stets mit Geheimtipps aus dem Hintergrund rechnen.
Und dennoch erwischten die (auch) auf dem Screamo-Experten-Label Zegema Beach beheimateten Closet Witch mit ihrem Zweitwerk auf dem falschen Fuß. Mit Gitarren, die den dreckigsten Boden versiffter Moshpits mit Noise-Morast aufwischen. Einer Stimme wie einem tollwütig keifenden Furien-Ritt. Einer Rhythmussektion, die mit einer intensiv anspringenden Energie ballert, dass selbst alte Szene-Hasen mit Hummeln im Hintern explodieren und die eigenen vier Wände zu Hits wie You, Me & Venus in Decay zerlegen wollen, nein – müssen: zwingender als dieses Zweitwerk geht einfach kaum!
Closet Witch sind damit als Scene Stealer der gegenwärtigen Grindcore-Show aus dem Schatten der veritablen Cloud Rat-Erben auf Augenhöhe mit der Speerspitze des Genres gepresst. Dass Dylan Walker (trotz ausnahmslos aufzeigender Adrenalin-Spritzen auf No Love Lost, Failure Will Follow und The Sin of Human Frailty) hier sein bestes Feature in diesem Jahr abliefert, ist insofern ein gutes Sinnbild für den immensen Level ist, auf dem Chiaroscuro operiert – dass die Platte ihren idealen Titel samt dem wundervollen Artwork in der Spätrenaissance gefunden hat, womöglich auch: was soll hiernach kommen?
03.
Panopticon
–
The Rime of Memory
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Austin Lunn lässt sich fast bis zum letzten Augenblick Zeit, um (insofern wohl nur als konsequentes Ergebnis) beinahe einen Start-Ziel-Sieg mit seinem (ideal auf die Stimmung der Musik getimten) Dezember-Release im Jahresrückblick hinzulegen: Etwas besseres als The Rime of Memory, dieses mit Elementen des Postrock, Folk und Americana durchsetzte Prunkstück des modernen, amerikanischen Black Metal ist dem Genre im Speziellen schon lange nicht, und 2023 im Allgemeinen kaum passiert – was das Listen-Erstellen vor dem dem finalen Monat des Jahres nebenher auch als Unart vorführt.
Gerade als Gesamtwerk, als Epos und veritabler Blockbuster, verdient dieses Album jedenfalls schon jetzt, und nicht erst rückwirkend, an seine Vorzüge erinnernd so viel Ehrerbietung, auch wenn das beste an The Rime of Memory womöglich doch die Tatsache ist, zumindest mittelfristig keinerlei beeinträchtigendes Ablaufdatum an diesen fast 76, die bisherige Geschichte von Panopticon kulminierenden Minuten feststellen zu können.
02.
Slowdive
–
Everything is Alive
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Shoegaze ist laut aktuellen Erkenntnissen populär wie nie zuvor (und hat Dank jüngeren Gruppen wie Flyying Colours oder noch jüngeren Epigonen a la Rippedd auch mit keinem Generationskonflikt zu kämpfen), doch Slowdive wählen deswegen keineswegs die Sicherheitsvariante in der Komfortzone: Everything is Alive expandiert den stilprägenden Signature Sound der Band noch weiter als bereits das selbstbetitelte Comeback von 2017 in die Sphären des Kraut- und Post Rock, Ambient- und Synth Pop, lässt ästhetisch leichter an The Cure, Notwist oder Beach House im Sternenmeer denken, bevor einem die neben Slowdive zweite größte Shoegaze-Band aller Zeiten als Referenz in den Sinn käme.
Mag es so auf den ersten Blick auch keinen derartigen Instant-Evergreen wie Sugar for the Pill im Gefüge geben, reklamiert jede der aufgefahrenen acht Nummer für sich ein bisschen das Gütesiegel „Ausnahmesong“, reiht sich hier in Summe doch ein nichtsdestotrotz vertraut abholendes Sammelsurium aus heimlichen Ohrwürmern, klaren Hits (Kisses) und purer Gänsehaut-Magie (Prayer Remembered) unter dem auf Albumsicht nicht restlos runden Bogen von großer Songwriting-Kunst zu ätherischer Formvollendung aneinander.
Die Frage, ob Rachel Goswell, Neil Halstead und Christian Savill, Nick Chaplin und Simon Scott mit dieser Entwicklung der Zeit und ihren Trends auf anachronistische Weise voraus sind, stellt sich dennoch nur bedingt, denn mehr als alles andere fühlt sich Everything is Alive, das sich seit seinem Erscheinen zu einem verlässlichen Begleiter entwickelt hat, dann doch wie das vertraute Wiedersehen mit einem vor langer Zeit ans Herz gewachsenen Freund an.
01.
Khanate
–
To Be Cruel
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Man musste nach (etwaige On-Off-Auftritte vor über einer Dekade außen vor lassend) 17 langen Jahren wahrlich nicht mehr damit rechnen, noch einmal etwas von Khanate zu hören. Wie gut die Chancen stünden To Be Cruel allerdings in der persönlichen Endabrechnung der vergangenen zwölf Musik-Monate auf dem obersten Treppchenplatz des Rankings wiederzusehen, war hingegen spätestens nach dem ersten Durchgang, den diese aus dem Nichts erschienenen 61 Minuten auf dem (erstmal nur digitalen) Plattenteller spendiert bekamen, gar nicht so unwahrscheinlich.
Fanbrille hin oder her, (und da mögen sich die bisherigen, via Sacred Bones wiederveröffentlichten Meisterwerke von Alan Dubin, James Plotkin, Stephen O‘Malley und Tim Wyskids durch ein tatkräftiges Mitgestalten an musikalischen Sozialisierungen noch so einen unumstößlichen Ehrenplatz am verstörenden Abgrund des Herzens verdient haben!) das tatsächlich beste Album einer ikonischen Band verlangt und verdient praktisch kaum weniger.
Khanate spielen zwar dafür genau genommen nicht mehr, als drei Stücke, die auf den ersten Blick nur die angestammten Trademarks der Gruppe bedienen (was alleine deswegen absolut klar ginge, weil einfach keine andere Formation da draußen klingt, klingen kann!, wie Khanate), auf den zweiten aber reifer und vielschichtiger zu Werke gehend idealer produziert den nihilistischen Charakter dieses tongewordenen Exorzismus klangtechnisch eindringlich wie nie destillieren.
Ja, es ist einfach so verdammt gut diese Band wiederzuhaben, denn sie tut heute vielleicht sogar noch mehr weh, als vor rund zwei Jahrzehnten.
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