Die Alben des Jahres 2022: 50 – 41

by on 30. Dezember 2022 in Featured, Jahrescharts 2022

Die Alben des Jahres 2022: 50 – 41

Als unzweifelhafte Karrierehöhepunkte haben Touché Amoré, Fiona Apple, Nick Cave & the Bad Seeds, Pallbearer, Kendrick Lamar, David Bowie, Bell Witch, Low (RIP, Mimi!), Lana Del Rey, A.A. Williams und Ad Nauseam jeweils einen ersten Platz in den Heavy Pop-Jahrescharts seit 2011 gemein.

Wer sich zu dieser elitären Riege gesellen wird, war am Ende von 2022 eigentlich fraglos seit längerem klar – auch die restlichen Treppchenplätze des Rückblicks haben sich als gefestigt erwiesen. Dahinter (und bis zumindest ans Ende der Top 20) wurde der Abstand zwischen den Plätzen allerdings relativ dünn: es war eben ein Musikjahrgang mit einem sehr überschaubaren Maß an wirklich überragenden Platten mit Meisterwerk-Potential – dafür aber in der Breite wirklich sehr gute, manchmal sogar ausgezeichnete 12 Monate.

| HM | EPs | 50 – 41 | 40 – 31 | 30 – 21 | 20 – 11 | 10 – 01  | Playlisten |

50. Mutually Assured Destruction – Ascension

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Reden wir nicht lange um den heißen Brei: der Grund, weswegen sich Mutually Assured Destruction einen Platz in diesem Ranking ergattert haben, ist nicht der, dass sich ihr Debütalbum Ascension bereits wie ein voll ausformuliertes Meisterstück anfühlen würde, nein. Dafür fehlt zumindest hinten raus das Gewicht – ein ausufernder Jam beispielsweise?
Viel eher liegt es daran, dass jede der aufgefahrenen 30 Minuten nahelegen, dass hier großes – und mehr noch: äußerst eigenwilliges! – zusammenwächst und die Alchemisten aus Richmond eine Formel gefunden haben dürften, deren Ertrag auf absehbare Zeit immens ausfallen müsste.
In einem wahrhaftigen Gleichgewicht des Schreckens artikuliert das Quintett seine Mischkulanz aus doomigem Hardcore und rifftastischem Sludge mit einem so originären Zugang zum Southern Rock, dass einem das Herz wie in der Findungsphase von Every Time I Die aufgeht, derweil Frontmann Ace Stallings seine croonenden Verehrung für Glen Danzig im Spannungsfeld aus Clutch-Momenten und hardrockenden Rob Zombie-Breitbeinern keine Sekunde zurückhält. Ein Spektrum, in dem blastende D-Beats ebenso Platz haben wie 90s-Groove/ Nu Metal oder grungiger Americana-Blues. Was Phil Anselmo ebenso in Verzückung versetzen sollte wie Gaststar Randy Blythe.

Panzerfaust - The Suns of Perdition - Chapter III: The Astral Drain49. Panzerfaust – The Suns of Perdition – Chapter III: The Astral Drain

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Kann das für sich alleine stehend absolut überzeugende The Astral Drain seinen 2020er-Vorgänger Render Unto Eden toppen? Nein, das nicht. Und haben sich auf dem dritten Kapitel, dem Herz- und Mittelstück der seit 2019 laufenden Konzept-Reihe der Kanadier ein paar weniger zwingende Phasen des Müßiggangs etabliert, die allzu ekstatische Auflösungen verweigern? Das schon – zumindest in der ersten Hälfte der Platte. Aber stören all die Interludes? Höchstens im letzten Drittel.
Die Regeln der Dramaturgie prophezeien jedoch ohnedies: Spätestens der Rückblick auf das Gesamtwerk nach dem Erscheinen der beiden noch ausstehenden Teilen der The Suns of Perdition-Pentalogie wird Panzerfaust ziemlich sicher in der Entscheidung recht geben, die Dynamik und Ausrichtung ihres Großprojektes für The Astral Drain geändert zu haben – den Black Metal weitestgehend zurückzulassen, um auf einer breiteren Basis kontemplativer zu agieren. Eine Serie, in der jede Episode die gleiche Geschwindigkeit, Erzählstruktur und Intensität aufweist, wäre ja auch ziemlich langweilig.
(Wer seinen Atmospheric Black Metal mit mehr Action bevorzugt, dem sei übrigens optional empfohlen, sich auf die Jagd nach Spiders Lust in the Dungeon’s Dust machen – sofern man bei der samt Versand in den dreistelligen Bereich kletternden Vinylversion schnell genug war, muß man halt mangels jedweder digitaler Optionen auf eine suboptimale YouTube-Transkription zurückgreifen).

48. Candy – Heaven is Here

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Candy haben das aggressive Anrühren des bestialischen Fleischwolf-Gemetzels in bester Nails-Manier vier Jahre nach ihrem Debütalbum Good to Feel radikal konsequent verinnerlicht und blasen auf dem teuflisch guten Heaven is Here deswegebn eine halbe Stunde lang Schädeldecken von eskalierendem Pit-Körpern.
Was das Zweitwerk der Angel Du$t-Splittergruppe jedoch eigentlich so faszinierend macht, sind die Momente, wenn Candy ihre Brutalo-Attacken nicht über den angepissten Powerviolence/Metal/Hatdcore föhnen, sondern ihren Husarenritt ebenso unberechenbar wie homogen im Album-Habitat eingewoben plötzlich – und vor allem: ebenso konsequent! – als Power Electronics, Harsh Noise- und Industrial-Albtraum mutieren lassen, der von der stellaren Tanzfläche ebenso beängstigende Horror-Visionen (in Transcend to Wet oder Kinesthesia) hat, wie von Klanginstallationen für den persönlichen Nervenzusammenbruch (im zehnminütigen Closer Perverse) – und zur Not in World of Shit auch ohrenblutende Spitzen verteilt. Kurzum: Das ist der Stoff, den sich Full of Hell und The Body vor ihrem nächsten Zusammentreffen als Messlatten-Kerosin in den Tank kippen sollten!

Devil's Witches - In All Her Forms47. Devil’s Witches – In All Her Forms

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War es Electric Wizard-Boss Jus Osborne, der Devil’s Witches einmal attestierte, so zu klingen, als wäre die Ein-Mann-Band von James Abilene direkt aus einem 70er Folk Horror Film gefallen?
Die tatsächliche Lebensgeschichte des Schotten ist jedenfalls kaum weniger spektakulär: In einem christlichen Kult aufwachsend waren Freunde außerhalb der Gemeinde verboten, und der kleine James gezwungen, sich in seinem Zimmer im Alleingang in die Kreation von Musik zu flüchten, während seltene Ausflüge zu seiner in der realen Welt lebenden Großmutter ihn mit Late Night Movies – und einer bis heute anhaltenden Faszination für die Vietnam und Vintage-Pornos – in Berührung brachten. Als ihm Jahre später der Ausbruch aus dem Kult gelang, lebte er einige Zeit obdachlos – bis der Erfolg von Devil’s Witches in den fünf Jahren seit dem Debütalbum Velvet Magic kontinuierlich wuchs und alles auf einer größeren Ebene stattzufinden begann.
I don’t think my influences have changed very much. What has changed is my confidence to express myself in ways that might not seem conventional. Putting out songs about sex toys or menstruation can raise a few eyebrows.“ sagt Abilene und lässt dies Selbstbewusstsein nun in einem Album kulminieren, das majestätische Doom-Landschaften mit imposanten Riffkaskaden in surreale Psychedelik-Pop-Fantasien führt. Vieles davon scheint wie geschaffen dazu, erst in der Live-Umsetzung seine volle Monumentalität zu entfalten – doch dass Abilene nicht tourt, gehört ebenso zum existentialistischen Mythos von Devil’s Witches.

Daeva - Through Sheer Will And Black Magic​.​.​.46. Daeva – Through Sheer Will And Black Magic​.​.​.

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Through Sheer Will and Black Magic…und natürlich den unbändigen Bock auf schwarzgeifernden Thrash Metal samt der nötigen Handwerkskunst hat die von Steve Jansson zur Crypt Sermon-Splittergruppe umgewandelte Philly-Truppe Daeva eine Riff-Party sondergleichen beschworen, schwindelfrei verausgabend: „The style of music is a bit more of a comfort zone, making music that is based more on sheer momentum and urgency which is what comes very naturally to me, putting the riffs together and such. Crypt Sermon as a band allows for more space to write music and know when to step back, you don’t have to do that with Daeva.“ Oder wie  Drummer Enrique Sagarnaga ergänzt: „It was great to express this side of it and geek out over drummers like Gene Hoglan and all this extreme shit – I don’t have to focus on time signature changes or volume because this is just LOUD and FAST all the time.
Was dann alles freilich simpler klingt, als dieses Debüt-Hochdruck-Schaulaufen mit all seinen spielwütigen Ideen tatsächlich ist – gerade der unkomplizierte, intuitive Zugang, der den Funken sofort überspringen lässt, ist sicherlich ein extrem wichtiger Faktor im Erfolgsrezept der Band, doch die Langzeitunterhaltung ist wohl noch gravierender, wie alleine das abschließende Luciferian Return demonstriert, in dem Daeva zur progressiv-triumphalen Hochform auflaufen.

Deathspell Omega - The Long Defeat45. Deathspell Omega – The Long Defeat

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Obwohl Deathspell Omega den Weg von The Furnaces of Palingenesia in immer breitenwirksamere, leichter verdauliche Gefilde konsequent fortsetzen – denn welche Entwicklung wäre für die alle Extreme in die andere Richtung bereits ausgetestet habenden Franzosen auch radikaler und polarisierender? – ist The Long Defeat nach einer kurzen Vorab-Aufregung um die personelle Besetzung des deklarierten „Power Trios“ vielerorts gefühlt relativ bald im Wahrnehmungs-Rückspiegel (und genau genommen sogar: neben dem gesamten Backkatalog der Band auch von Bandcamp) verschwunden.
Nicht so Miko Aspa allerdings: der ist immer noch ein Dienstleister der Band, wenngleich vorerst/endgültig nur noch ein Teil im Gefüge, weil er sich den Platz an Mikro mit einigen anderen Stimmen teilen muss (auch insofern war diesmal wohl kein elaboriertes Interview seitens der Band notwendig, um Positionen zu definieren).
Mögen ans Herz gelegte Epigonen wie Verberis oder Devenial Verdict den Disso-Death mit Paracletus als Leitstern jedenfalls weiterhin im Martyrium artikulieren, liegt vor Deathspell Omega dagegen nunmehr in unmittelbarer Sichtweite plötzlich das Stadion, auch ein offenkundiger Entertainment-Faktor – und möglicherweise eine Zukunft, die man nicht unbedingt für das bandgewordene Enigma erhofft hatte. Dennoch ist dies nicht per se ein Verlust für das Genre, sondern in erster Linie eine neue, überraschende und überraschend reizvolle Herausforderung.

Messa - Close44. Messa – Close

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Ende Oktober hat ein schwerer Autounfall justament am Ende der laufenden Tour der Italiener dafür gesorgt, dass nicht mehr Close, das dritte Studioalbum des Quartetts, im Zentrum der Aufmerksamkeit lag, wenn es um Messa ging. Glücklicherweise nur kurzfristig: Mittlerweile hat sich der Rauch gelegt, der finanzielle Schaden wurde abgefangen und auch ein Gutteil der körperlich erlittenen Blessuren scheint verheilt.
Weswegen man erleichtert noch einmal die Klasse der bisher besten, weil auch so demonstrativ ambitioniertesten Platte der Band preisen kann. Wie sich Messa vom angestammten Doom aus in Gefilde strecken, wo die Blues Pills und The Devil’s Blood nicht mehr hinreichen, und dabei Jazz-, World Music- oder Psychedelic-Tendezen ebenso nahtlos in ihr überbordendes Werk einflechten wie Black Metal-Ausbrüche, ist jedenfalls keine unfokussiert aus dem Ruder laufende Karambolage, sondern ein organisch gewachsenen Schaulaufen, das jedes mal aufs Neue staunen lässt

Daniel Rossen - You Belong There43. Daniel Rossen – You Belong Here

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The goal of this record, if anything, was to just be super honest about my musical interests and honest about myself and my life and not really hold anything back — and not worry too much if the songs came off too dark or too long or too revealing of my personal life or any direction like that. I just wanted to make a statement that meant something in my own life and in my own family and in my own world regardless of how it is received on the other side.“ sagt Daniel Rossen zehn Jahre nach Silent Hour/Golden Mile und fünf Jahre, nachdem Painted Ruins sowie der Ausstieg von Ed Droste Grizzly Bear auf Eis gelegt haben.
Der mittlerweile 40 jährige ist in seiner neuen Rolle als Familienmensch mit Frau und Tochter aus der Indie-Blase Brooklyn nach New Mexico gezogen und hat sein erstes Soloalbum als Nachwirkung der Pandemie tatsächlich (bis auf ein paar genial folkjazzige Parts von Drummer und Kumpel Christopher Bear) weitestgehend alleine eingespielt – was sich so live im Alleingang freilich nicht reproduzieren lässt, aber einen intimen Blick auf einen Ausnahmemusiker freigibt, der You Belong Here nicht nur als technische Prog-Perspektive auf vertraute Trademarks anlegt, sondern auf emotionaler Ebene funktioniert – als ebenso intimes, zutiefst persönliches Statement, wie es mit einer universellen Anziehungskraft einfühlsam in den Arm nimmt.

Raum - Daughter42. Raum – Daughter

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Es ist dem reinen Platzmangel geschuldet, dass einige der wunderbaren Soundtracks aus diesem Jahrgang keinen Platz in diesem Ranking gefunden haben – zumindest  Bones And All sowieso Neon White haben sich allerdings zumindest eine Erwähnung verdient.
Die Grenzen zwischen Score und Ambientwerk sind bei Daughter, dem ersten Raum-Album seit neun Jahren, durchaus fließend: stets scheint eine niemals greifbare Handlung unter all den sphärischen Synthflächen zu geistern. Imaginative Bilder stapfen durch verschneite Wälder und wärmen sich an verschwommenen Erinnerungen, die in bedächtigen Überblendungen eine Geschichte erzählen, deren mystische Anziehungskraft auf eine nostalgische Vertrautheit setzt.
Aufgrund dieser universellen Wirkung hat der Nachfolger von Events of Your Leaving allerdings auch ein ganz reelles Narrativ: Jefre Cantu-Ledesma und Liz Harris alias Grouper nehmen hier Abschied von ihrem Freund Paul Clipson.

41. Kendrick Lamar – Mr. Morale & The Big Steppers

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Fünf Jahre nach Damn verhebt sich Kendrick Lamar daran, dass sein fünftes Studio-, erstes Doppel- und letztes Top Dawg-Album unbedingt ein Meisterwerk von konsequenter selbst-referentieller und -therapeutischer Schonungslosigkeit sein will – nein, es eben unbedingt sein muss. Nach einer tollen ersten Hälfte und vor einem gelungenen Finale verkrampft Mr. Morale & the Big Steppers jedoch wenig zwingend in einem erstaunlich langweiligen dritten Viertel vor dem versöhnlichen Finale, das erstaunlicherweise sogar Portishead-Königin Beth Gibbons einlädt.
Ähnlich wie (das weitaus inkonsistentere) It‘s Almost Dry ist Mr. Morale & the Big Steppers jedoch (gerade nach The Heart Part 5) eine Enttäuschung auf so hohen Niveau, dass man damit verdammt gut leben kann: Kendrick ist lyrisch und performancetechnisch wie immer eine Klasse für sich, die Produktion von einem Who is who des Business (rund um alte Bekannte wie Sounwave, J. Lbs, DJ Dahi, Bekon oder The Alchemist) sitzt ambitioniert. Nirgendwo sonst gab es zudem einen solch abstrusen (oder einfach nur auf Metaebene verstanden werden wollenden?) Sex-Streit wie in We Cry Together mit Taylour Paige.
Selbst wenn all die grandiosen Alben in einem traumhaften Hip Hop-Jahrhang – von OG Kemmo, die Griselda-Crew, Billy Woods und seinen Kumpel Elucid über J.I.D, Dälek und Lil Supa bis hin zu Denzel Curry und Earl Sweatshirt oder natürlich dem unter dem Radar laufenden Black Star-Comeback – wahlweise per se besser (?), interessanter (?) oder zumindest sicher effektiver (!) waren – öfter gelaufen als Mr. Morale & the Big Steppers sind sie alle dann letztendlich doch nicht.

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