Die Alben des Jahres 2021: 50 – 41
Sich 30 als Vinyl-Exemplar pünktlich zum Releasetermin ins Regal stellen zu können war ja eines der geringsten Probleme in einem Jahr, das die finanzielle Zugkraft des Plattenmarktes endgültig aus dem Nischendasein gepresst hat.
Zumindest war das Comeback von Adele derweil ebenso zuverlässig wie die unspektakuläre, angenehm anachronistische Rückkehr von ABBA – oder das ähnlich aus der Zeit gefallene Comeback von Sweet Trip -, während anderswo im Pop als unfehlbar eingestufte Galionsfiguren wie Billie Eilish oder Lorde mal weniger, mal mehr enttäuschten; ein Ed Sheeran genau servierte, was man mit Furcht erwarten konnte; Coldplay in der Achterbahn ihrer Diskografie wieder an einem neuerlichen Tiefpunkt angekommen sind; die Killers ungewohnte Höhen erklommen und Deafheaven sich erfolgreich als Shoegaze-Band neu erfunden haben.
All diesen Releases ist übrigens gemein, dass sie sich trotz einer breiten medialen Präsenz oder gebührender Verehrung auf dem hiesigen Blog keinen Platz in unseren Top 50 erstreiten konnten. Dafür aber zahlreiche Alben, auf deren Vinylversionen es nebenbei bemerkt noch zu warten gilt – weswegen das folgende Rekapitulieren der Vorzüge dieser Jahres-Schmankerl insofern vielleicht ja auch die Vorfreude auf 2022 steigert.
| HM | Kurzformate | 50 – 41 | 40 – 31 | 30 – 21 | 20 – 11 | 10 – 01 |
50. Impure Wilhelmina – Antidote
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Sollen sich doch die Geister ruhig am ambivalenten Gesang von Michael Schindl scheiden – Impure Willhelmina gelingen auf ihrem achten Studioalbum trotzdem (oder gerade deswegen auch?) die größten, eingängigsten und breitenwirksamsten Songs ihrer Karriere.
Vom prolongierten Post und doomigen Metal sind diese dafür längst in eine Goth-affine Alternative-Richtung aufgebrochen, deren catchy Hooks aber immer noch ein wenig Raum für akzentuierte Black Metal-Ausbrüche lassen. In etwa so, als würde sich Geoff Rickly als Frontmann von Katatonia an einer Faszination für brtischen Rock der 80er und 90er verheben. Dieser Eklektizismus hat einfach Charakter.
49. Kanonenfieber – Menschenmühle
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Dass die internationale Aufmerksamkeit und Begeisterung, was thematisch rund um den ersten Weltkrieg kreisende Metal-Alben anging, 2021 vor allem auf Where Fear and Weapons Meet von 1914 gelegen hatte, war natürlich nicht verkehrt, subjektiv nur dann eine zu teilende Ansicht, wenn man nicht viele Monate vorher (erst via Noisebringer veröffentlicht, dann von Avantgarde Music neu aufgelegt) das Debütalbum dieser Spielwiese von einem Bramberger Musiker namens Noise gehört hatte, auf dem die Latte für die spezielle konzeptionelle Nische uneinholbar hoch gelegt hatte.
Das liegt auch an der immens dynamischen Vielseitigkeit, mit der das zu jedem Zeitpunkt homogene Menschenmühle entlang einiger historischer Sprachsamples seinen Black Metal dem Death aussetzt, mit Doom-Überbauten ebenso natürlich kontrastiert wird wie mit Post Metal-Ideen, catchy Walzen vorantreibt oder epischere Panzerfaust-Momente aufbaut und am Ende den Epilog in der reduzierten Einkehr findet.
48. Slant – 1집
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Slant aus Südkorea fetzen ihren 80er Hardcore Punk auf ihrem 17 Minuten lang sprintenden Debütalbum weiterhin wie aggressiven Garage Rock – mit einem hinzugekommenen zweiten Gitarristen im Bund allerdings auch weitaus aufgeräumter und klarer produziert als bisher zwar, aber keine Sekunde am bekannten (über eine Demo und eine EP) etablierten giftigen Biss nachlassend. Angepisst, nicht exotisch; den Standard hungrig attackierend, straight und simpel mitreißend.
Nach originellen Innovationen muß da also niemand suchen, doch 1집 stellt man sich ohnedies für die effektiv energische Spielwut und das bis zum Black Metal fauchende und keifende Geschrei von Frontkäppchen Yeji ins (aufgrund physischer Limitierungen wohl primär digitale) Plattenregal – alleine schon eigentlich, wenn man doch weiß, dass man bei Veröffentlichungen aus dem Hause Iron Lung Records praktisch ungehört zugreifen kann.
47. Demoniac – So It Goes
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„Chilenischer Metal ist mein Leibgericht und für das Rezept brauchst du Gewalt, Hass und Wut!“ – und eine Klarinette natürlich.
Es liegt aber nicht nur an der unkonventionellen Instrumentenwahl (die hier nicht als billiges Gimmick genutzt wird, sondern als integrales Begleitmotiv), dass Demoniac mit ihrem Zweitwerk einen gehörigen Schritt nach vorne gemacht und sich in der internationalen Wahrnehmung platziert haben: Das Songwriting der Band ist traditionsbewusst mit eigenwilliger Note bereit Risiken einzugehen. Nicht mehr nur auf Englisch zu singen hat zudem die originäre Handschrift verstärkt. Die zwingenden Riffs und die Performance sitzen sowieso – über eine Plattenhälfte mit knackigen Ausbrüchen und einer organisch gewachsenen Longtrack, wie ihn eigentlich nur Taylor raushauen kann.
Thrashen können Demoniac (wie man rückwirkend erfahren hat) ohnedies schon lange wie die Großen – hiermit haben sie sich auch eine charakterstarke Identität erkämpft.
46. Papangu – Holoceno
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Vier Brasilianer benennen ihre Band nach einem „folkloric beast (…that is a part of the carnival festivities of the state of Pernambuco and they’re basically people dressed like monsters going out on the street playing tricks and asking for money)„, arbeiten sieben Jahre auf ein Album hin, und beschwören auf diesem dann mit ein paar virtuosen Gästen vage Songformen aus dem Jam, um sie zwischen Referenzen wie Mastodon, King Crimson oder Magma unter dem Banner der Klimawandel in die Manege des Zeuhl und Sludge, Avantgarde und Prog zu werfen.
Das Ergebnis ist ein Debütalbum, dass gleichzeitig traditionell und modern klingt, okkult und mystisch, kraftvoll und ungebunden – ein eklektisches Sammelbecken aus global gefärbtem Lokalkolorit – dabei aber bei aller jetzt schon beschworener Klasse vor allem ein Versprechen ist, die Zukunft noch ambitionierter anpacken zu wollen.
45. Parannoul – To See the Next Part of the Dream
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Nicht wenige werden die Erkenntnis, dass Asian Glow und Sonhos Tomam Conta enorm vielversprechende Kombos mit rosigen Zukunftsaussichten und reichhaltigen, gerade 2021 imposant aufgeführten Lebensläufen sind, dem plötzlichen Popularitätsschub des zweiten Parannoul-Albums verdanken – immerhin geriet To See the Next Part of the Dream vor dem Gipfeltreffen Downfall of the Neon Youth zum aufmerksamkeitsgenerierenden Post-Web2.0-Mammutwerk und stilistischen Paradigmenwechsel für einen selbstdiagnostiziert schüchternen Stubenhocker aus Seoul.
Und während sich dieses am Heimcomputer gezüchtete Meer aus Shoegaze, Noisepop und Emo nicht und nicht erschöpfen will, man weitere hauseigene Veröffentlichungen neuer und alter Parannoul-Identitäten entdeckt, ist die Möglichkeit des Eintauchens in die Welt um dieses Gateway-Epizentrum der vielleicht schönste Nebenanspekt an einem frühen und unerwarteten Hype: To See the Next Part of the Dream bedeutet auch, eine gesamte Szene neu für sich entdecken zu können.
44. Vildhjarta – Måsstaden Under Vatten
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In Relation zu den zehn Jahren Wartezeit (die durch etwaige Teaser seit 2016 gefühlt ohnedies länger war, als nur eine ganze Dekade) seit dem Debüt Måsstaden sind die knapp 80 Minuten Spielzeit von Måsstaden Under Vatten theoretisch eine Lappalie – praktisch aber sind sie womöglich sogar anstrengender und auslaugender zu ertragen.
Denn wenn die Band um Mastermind Daniel Bergström prolongiert, dass „Kunst passiert, wenn Kunst passiert“ dann ist damit schon auch gemeint, dass Kunst passiert, wenn sie ausgewrungen, erzwungen und zur plättenden Masse wird; wenn der Djent auf die unendlich tief gestimmte Streckbank gespannt wird und im malträtierenden Stoizismus nach der Epiphanie sucht. Dass die Repetition und das Volumen von Måsstaden Under Vatten dabei ein integraler Teil der musikalischen Wirkung ist, die Platte in kompakteren Dimensionen einfach nicht diese Form der Gravitation erreichen würde, ist logisch: Gewissermaßen ist der MO von Vildhjarta weitaus näher bei der Praxis der Swans als bei den stilistischen Ziehvätern von Meshuggah zu verorten. Wichtiger ist hingegen ohnedies die Wirkung: Notfalls wird man von diesem Monstrum auch wieder zehn Jahre zehren können.
43. Moral Collapse – Moral Collapse
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Im Gegensatz zu etwaigen ihre prolongierte Nationalität mutmaßlich nur für einen obskuren Wahrnehmungsbonus fakenden Kollegen kommen Morale Collapse tatsächlich aus Indien – und machen auch kein Mysterium um ihre mitunter namhafte Besetzung und Gästeliste. Kein Wunder, lässt sich der bis in den Tech-Death Jazz reichende Metal von Arun Natarajan und Co. ja auch generell unter keinen Scheffel stellen.
Dass der Platte dabei hinten raus nach einer furiosen Eingangsphase ein wenig die Luft ausgeht, trägt dazu bei, dass das Debüt von Morale Collapse im Schatten von Ad Nauseam nicht das ultimative Szene-Highlight des Jahrgangs in der Gorguts-Schule geworden ist – zu den Klassenbesten zu gehören ist aus dem Stand heraus aber ja eigentlich beeindruckend genug.
42. The Notwist – Vertigo Days
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„Now that you know the stars ain’t fixed/ The roads ain’t straight/ Now that the sky can fall on us/ Now that you know how much it hurts/ Won’t save you from falling into love again“ heißt es im abschließenden, unsterblich feinen Into Love Again.
Und obwohl in den knapp zwanzig Jahre seit ihrem letzten (und vielleicht ultimativen) Meisterwerk Neon Golden mit The Devil, You & Me sowie Close to Glass zwei wunderbare Alben erschienen sind, ist es wirklich ein bisschen so, dass man sich anhand von Vertigo Days ein gutes Stück weit neu in The Notwist verliebt. Nicht in dem Sinne, dass die Zuneigung zur Band jemals weggewesen wäre, sondern insofern, dass man neben all den Dingen, wegen derer man diese Ausnahmeerscheinung ohnedies stets im Herzen (und dabei halt manchmal auch ein bisschen „nur“ im Hinterkopf) trägt, nun auch noch einmal ganz unbekannte Facetten der Deutschen zu schätzen lernt – wie bei einem vertrauten Freund, der sich willkommene neue Charakterzüge angeeignet hat.
Zahlreiche Gäste und Einflüsse machen Vertigo Days zu einem verschlungenen Pfad mit frischen Perspektiven unter bekannten Leitsternen, ambitionierter, unverbrauchter und aufgeschlossener klang die zuverlässig abliefernde Weltband The Notwist lange nicht.
41. Nun Gun – Mondo Decay
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Mondo Decay ist das Abenteuer, das die beiden Algiers-Musiker Lee Tesche and Ryan Mahan mit Brad Feuerhelm in der klaustrophobischen, neugierigen Apokalypse, die hinter den Grenzen der (bereits so unbändigen, hiernnach aber geradezu konventionell verankerten) 2020er-Schönheit There Is No Year erleben.
Der smooth in Trance versetzende Hoororfilm-Score von Nun Gun ist für eine Welt am Abgrund gemacht, speist sich aus einem experimentellen Sog aus Death Disco- und Doomjazz-Postulaten, psychedelischen Noise-Fragmenten und postindustriellen Post Punk-Werten, zeigt dabei aber immer noch (und vor allem: auch so ganz ohne Rattenfänger Franklin Fisher!) eine erstaunliche soulige Patina samt fesselnder Eingängigkeit, die auch dazu beiträgt, dass der somnambule Rausch in seiner faszinierenden Entrückung und atmosphärischen Dichte immer zuerst einladend wirkt, bevor er tatsächlich verstört.
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