Die Alben des Jahres 2021: 10 – 01
| HM | Kurzformate | 50 – 41 | 40 – 31 | 30 – 21 | 20 – 11 | 10 – 01 |
10.
Emma Ruth Rundle
–
Engine of Hell
Review | Spotify
Es mag natürlich seltsam anmuten, wenn man einer Musikerin, von der jeder einzelne bisher veröffentlichte Ton (egal ob sie ihr Trademark-Gitarrenspiel, ihre unverkennbare Stimme oder erschüttern könnenden Textzeilen in das stilistische Licht des Postrock, Sludge, Ambient oder Singer-Songwriter-Western-Dark-Folk stellte) immer etwas absolut persönliches, unverfälschtes und essentielles hatte, attestiert, nun, mit ihrem fünften Soloalbum, erst wirklich pur, schonungsloser, ehrlicher, verletzlicher und verletzender zu klingen – kurzum ihr distanzlosestes Werk aufgenommen zu haben.
Doch genau dies ist bei dem Paradigmenwechsel Engine of Hell der Fall. Rundle sattelt weitestgehend auf das Piano um, singt anders, fragiler, als je zuvor, und türmt keine Effekte mehr als Schutzwall auf, sondern reduziert ihre Songs, wo es nur geht. Man muss deswegen auch kein Prophet sein, um zu erkennen, dass nach diesen stillen, bestürzend traurigen, aber auch unendlich feinsinnigen 41 (selbst)therapeutischen Minuten im einen Ereignishorizont der Katharsis erreicht habenden Kosmos der Emma Ruth Rundle nichts mehr so sein wird, wie zuvor. Eine seltsam beruhigende Ausicht.
09.
Every Time I Die
–
Radical
Review | Spotify
Noch ist unklar, ob das ultimative Drama den bisher größten Triumph von Every Time I Die überschatten wird: Nachdem Keith Buckley Anfang Dezember erklärt, dass er die noch ausstehenden Konzerte bis zum alljährlichen Tid The Season aufgrund mentaler Probleme auslassen wird, tut seine Band kund, die Termine ohne ihren Frontmann mit Fan-Unterstützung am Mikro spielen zu wollen. Daraufhin kochen die Wogen einseitig hoch: Keith berichtet von einer Verschwörung in den eigenen Reihen, um ihn als Sänger zu ersetzen – seine Band wiederum entschuldigt sich für die öffentliche Diskussion und will die Dinge im Privaten klären.
Mit kurzem Abstand ist man ob des Status Quos nicht schlauer: Every Time I Die haben am Tid The Season in voller Besetzung zwei exzessive Sets gespielt, die zum einen bezeugten, dass man alle Alben der Band in unzähligen Best-to-Worst-Reihenfolgen listen könnte, und jede nur insofern falsch liegen würde, als dass die Gruppe aus Buffalo kein schlechtes Album hat; und zum anderen, dass Radical rund um das aus Komforzonen ausbrechenden Thing With Feathers und einem guten Dutzend an Hits wirklich trotzdem noch einmal ein Quäntchen über allem bisherigen steht – zumal in einem ausführlicheren Volumen. Dass man mittlerweile dazu tendiert, fälschlicherweise in zahllose Textzeilen vorauseilende Schatten des aktuellen Konfliktes innerhalb der Band hineinzuinterpretieren lässt sich jedoch nicht mehr vermeiden.
08.
Mogwai
–
As the Love Continues
Review | Spotify
Über zweieinhalb Jahrzehnte haben Mogwai benötigt, um (das mutmaßlich nie ins Visier genommene Ziel zu erreichen,) von der Spitze der UK Charts zu lachen – und (sich bereits mit Rave Tapes und Every Country’s Sun in die Top Ten anpirschend) dafür im Grunde einfach nur auf eine bestechende Kontinuität gesetzt. Schließlich leben wir im einer Welt, die viel negatives, aber kein auch nur annähernd schlechtes Album der Postrock-Instanz zu bieten hat.
Trotzdem lässt es sich nur schwer wegdiskutieren, dass Mogwai mit unter anderem It’s What I Want To Do, Mum, Midnight Flit oder dem sich von verstorbenen Weggefährten wie David Berman straight verabschiedenden Shoegaze-Alternative-Rocker Ritchie Sacramento (Songtitel[erklärung] des Jahres übrigens) auf As the Love Continues eine ganze Fülle ihrer individuell stärksten Songs seit Jahren gelungen ist, die sich zudem zu einem kohärenten Gesamtwerk zusammenfügen. Was das zehnte Studioalbum dabei auch auf seiner Seite hatte, ist nicht nur der Rückenwind starker 2020er-Release-Katalysatoren, sondern auch das Momentum: mögen im weiteren Verlauf dieses Jahres auch so unheimlich viele klasse Postrock-Platten erschienen sein, war As the Love Continues früh im Jänner erscheinend nicht nur das subjektiv erste Highlight aus dieser Stafette, sondern aufgrund seines langen Atems als ständiger Begleiter über die folgenden Monate auch das prägenste und größte. Oder 62 Minuten Musik, die das Feuer der immerwährenden Liebe zu dieser Ausnahmeband neu auflodern lassen können.
07.
Black Midi
–
Cavalcade
Review | Spotify
Cavalcade hätte in dieser Rangliste (ganz objektiv betrachtet, natürlich!) locker noch weiter vorne Platz finden können. Wenn das Sequencing der Platte stimmiger gewesen wäre (Chondromalacia Patella rückt in einer idealen Welt beispielsweise als Opener vor John L und Slow danach vor Marlene Dietrich, dazu sind die B-Seiten Despair und Cruising einfach viel, viel zu gut, um abseits des Haupt-Kontextes verbraten zu werden) und nicht alle diese herumstreunenden Live-Session-Mitschnitte vorführen würden, dass Black Midi das hier aufgefahrene Material abseits des Studios noch spektakulärer hinbekommen.
Im realen Hier und Jetzt ist Black Midi mit ihrem Zweitwerk aber auch so der eklektische Geniestreich gelungen, der die vielgehypten Szenekumpels von Black Country, New Road und Squid auf die Plätze verweist; der einlöst, was man sich schon nach dem unorthodox improvisierten Debüt Schlagenheim von den blutjungen Briten versprach; der in herrlicher Unberechenbarkeit von Scott Walker zu King Crimson springen kann, ohne dies als Verrenkung zu betrachten; und der all das technische Wunderwuzzitum auch endlich mit Songs füllt, die auf emotionaler Ebene richtig zünden. Ja, Black Midi sind durch Cavalcade – ganz so, wie es auch ohne anmaßende Über- und Eingriffe durch den es besser wissenden Hörer ist – nun wohl wirklich die spannendste Band ihrer Generation.
06.
Japanese Breakfast
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Jubilee
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Die Highlights von Jubilee waren rund um das Veröffentlichungsdatums des Instant-Sommeralbums offensichtlich, und zeigten mit Balkan-Flair, Streicher-Balladen und in den Himmel ragende Singer-Songwriter-Hymnen vor allem im Rahmen auf.
Zwei Jahreszeiten später sieht die Sache längst insofern anders aus, als dass das Popalbum 2021 auch in all seinen anderen Auslagen aufzeigt, jede eingeflochtene stilistische Facette – vom Funk zur Disco, vom Indie zum Club – bei jedem neuen Durchgang einer nicht und nicht kaputtzuspielenden Platte um die die Krone unter den aufgefahrenen Lieblingstiteln rittert.
„How’s it feel to be at the center of magic/To linger in tones and words?/ …/ How’s it feel to stand at the height of your powers To captivate every heart? Projеcting your visions to strangers/ Who feel it, who listen to linger on еvery word/ Oh, it’s a rush!“ reflektiert Michelle Zauner ihr Dasein als Musikerin dabei jubilierend, bis einem die Endophine gefrieren: „But alone, it feels like dying/ All alone, I feel so much.“ Es sind eben auch die Abgründe, die den faszinierenden Reiz hinter all diesen umwerfenden Melodien und Hooks ausmachen, und die keinen Zweifel daran lassen, zu welcher Gruppe Zauner selbst gehört, wenn sie postuliert: „When the world divides into two people/ Those who have felt pain/ And those who have yet to.“
05.
Frontierer
–
Oxidized
Review | Spotify
Wer die Zeichen der Zeit korrekt deuten konnte, der wusste freilich schon vorab, dass Oxidized ein Ereignis werden würde, werden musste. Darauf deutete die Formkurve der transnationalen Band schließlich ebenso hin, wie all die großartigen Dinge, die im Frontierer-Umfeld seit Unloved passierten.
Die tonale Abrissbirne unter der Doppelspitze Pedram Valiani und Chad Kapper hat sich mit Oxidized jedenfalls tatsächlich den erwarteten Zenit erarbeitet, vielleicht sogar den (zumindest vorläufig) absoluten Over-the-Top-Idealzustand davon, was Frontierer-Musik leisten will: Brachialer Mathcore, wie er zu den Heydays vor spätestens zehn Jahren nicht besser malträtieren hätte können, zersprengt von einem Stroboskop-Feuerwerk aus manischen ADHS-Effekten und chaotisch blinkenden Pedal-Einsätzen – im dritten Anlauf allerdings eben noch einmal eine Schippe an Brutalität und Heaviness drauflegend, im Songwriting gleichzeitig für eine ausgewogenere Balance und kurzweiliger Dynamik sorgend. Eine emotionale Vielschichtigkeit muß man dieser Tinnitus-Radikalkur mit Workout-Charakter dabei freilich dennoch keine vorwerfen – sehr wohl aber, dass sich statt Oxidized eigentlich auch Optimized als repräsentativer Albumtitel für diesen Triumphzug angeboten hätte.
04.
LINGUA IGNOTA
–
SINNER GET READY
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„Ein brutales, der Platte angemessenes Ende, das mit dem Wissen entlässt, das CALIGULA, wenn es zu anstrengend ist, ganz einfach zu realistisch ist.“ hieß es in unserem Fazit zum Lobgesang auf LINGUA IGNOTAs Studioalbum von 2019. Zeilen, an denen man sich in Anbetracht von SINNER GET READY nun förmlich verschluckt.
Denn war der vierte Langspieler von Kristin Hayter selbst ohne adäqautes Hintergrundwissen über die Entstehung der Platte schon zum Zeitpunkt seines Erscheinens spürbar ein bewegendes, intensives, aufwühlendes und schier besonderes Werk, ist es nun, mit zusätzlichen Einsichten (deren Wahrheitsgehalt so übrigens – nur der Vollständigkeit halber – bestritten wird), nicht nur ein anstrengendes oder unangenehmes geworden, sondern ein praktisch kaum noch auszuhaltendes, nachdem sich das vermeintlich Abstrakte als schockierender Realismus zu erkennen gegeben zu haben scheint, und Zeilen wie jene von REPENT NOW CONFESS NOW mit einem ekelhaft unter die Haut gehenden Grauen behaftet sind.
SINNER GET READY ist als kasteiende Katharsis nie eine einfach zu etragende Angelegenheit gewesen – jedoch eine, zu der man aufgrund der zurückgenommenen Beschaffenheit der Inszenierung an sich öfter zurückkehren wollte, als zu jeder bisherigen Veröffentlichung von Hayter. Das hat sich geändert. Denn in gewisser Weise mag die letzte Zeile der hiesigen Plattenbesprechung vom August 21 nicht vollends daneben liegen, doch scheint sie rückblickend geradezu beschämend in unedlich vielen Hinsichten einfach falsch.
03.
Billy Strings
–
Renewal
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Geht es mit rechten und gerechten Dingen zu, wird Billy Strings Ende des Monats seinen zweiten Grammy in Folge abholen. Immerhin toppt Renewal nicht nur den 2021er-Gewinner Home, sondern auch das restliche Feld der heuer nominierten Werke – ohne gerade Sturgills famose erste Spontanübung oder Béla Flecks Quasi-Kooperationsplatte (auf der Strings übrigens mehrmals zu Gast ist) auch nur ansatzweise unter Wert verkaufen zu wollen!
Doch man kann es drehen und wenden, wie man will: Der 29 jährige (auf Nebenschauplätzen mit Trap und Folk zusammenarbeitende) Metalfan William Apostol und seine Alben sind einfach das beste, was dem Bluegrass passieren konnte – und sie werden gefühlt mit jedem neuen Anlauf im Studio in wirklich jeder Hinsicht noch beeindruckender. Die 67 Minuten oder 16 Songs seines dritten Langspielers mögen eingangs erschlagend anmuten, doch destillieren sie entlang solch puren Herzschmerz-Schönheiten wie Love And Regret oder In The Morning Light als seelenbalsamierende heimliche Highlights die Essenz des Genres mit technischer Virtuosität sowie einem unbedingtem Weitblick, ohne Scheuklappen und abenteuerlustig, mehr noch aber absolut kurzweilig und unterhaltsam, so variabel und dynamisch, dass das süchtig machende Renewal wenn überhaupt schon fast zu flott verfliegt.
Damit gehört der das Traditionelle mit dem Progressiven mühelos verbindende Strings zur seltenen Gattung Musiker, in deren Zukunft trotz aller Fallhöhe man ohne Sorge blickt – da zeichnet sich kein Zenit ab, obwohl längst alle anderen abgehängt sind. Wofür es freilich auch keiner Grammys als Bestätigung bedarf.
02.
Low
–
Hey What
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Letztendlich wäre es aufgrund der unsterblich schönen Songs und Melodien hier per se freilich vollkommen egal, wenn alles (oder zumindest manches), was man an Hey What für Synthies hält, auch wirklich Synthies wären. Dass ein Album, das (beinahe) alleine aus Gitarren und Stimmen besteht, gefühlt aber selten bis nie nach einem konventionellen – oder überhaupt irgendeinem! – Gitarrenalbum klingt, macht die Sache schon noch einmal eine Ecke aufregender, faszinierender.
Unter der Druck des instrumentalen Minimalismus und dem (jeden Superlativ unter Wert verkaufenden) produktionstechnischen Maximum wächst Hey What jedenfalls in ungeahnte Höhen, entwickelt das dreizehnte Studioalbum von Low, das auf den ersten Blick wie ein Da Capo des Vorgängers anmutet, tatsächlich aber die noch konsequentere Steigerung davon darstellt; zu einem Werk mit Referenzwert, mehr noch als Double Negative es war: Wo Low vor drei Jahren auch im Fahrwasser solcher auch auf die Elektronik umsattelnden Kollegen wie Sufjan Stevens oder Bon Iver die Standards neu definierten, agieren sie nun gleich jenseits dieser Grenzen – visionär gar.
Keine andere Band ist damit in der Geschichte von Heavy Pop näher dran gewesen, den obersten Treppchenplatz in den hiesigen Charts erfolgreich zu verteidigen, als Low, die nominell zwar nur aus Alan Sparhawk und Mimi Parker bestehen, in der aktuellen Zweite-Frühling-Phase ihrer radikal neu erfundenen Existenz aber BJ Burton definitiv als essentiellen dritten Grundpfeiler ihres Sounds listen müsste. Dem als Duo getarnten Trio wird all das ohnedies herzlich egal sein – allen anderen aber wohl auch, weil kein anderes Meisterwerk nach dem Meisterwerk in jüngerer Vergangenheit so sehr vor Ohren führte, dass sowieso alles relativ und eine Frage der Perspektive ist.
01.
Ad Nauseam
–
Imperative Imperceptible Impulse
Review |
Epigonen, die das Erbe von Gorguts in blinder Begeisterung antreten wollen, gibt es (angesichts der sich weitläufig an den Standards verhebenden Akteure) zu viele. Solche, die das Schafffen der Avantgarde-Tech-Death-Pioniere auch verinnerlicht haben und würdig zu tragen verstehen, hingegen nur wenige. Noch dünner gesäht ist höchstensdas Feld jener, die diese Bürde sogar über die Verwalter-Tätigkeit hinaushieven können.
Und dann gibt es da eben noch ausnahmsweise eine Erscheinung wie Ad Nauseam.
Vier Italiener haben auf teils selbstgebauten Instrumenten in furioser Eigenregie mit ihrem Zweitwerk ein Album aufgenommen, das von den Klassikern (und nicht nur der Gorguts-Bibel) des Genres aufmerksam gelernt hat und deren Tugenden mit eigener, eigenwilliger und unkonventionellerHandschrift aufregend weiterdenkt, dabei produktionstechnische Wertmassstäne neu definiert und damit sechs Songs artikuliert, deren atemberaubende Virtuosität von wahrlich ikonischen Szenen angereichert eine solche Sogwirkung entwickelt, dass all die Härte, die Brutalität, die Dynamik und die Agression der leviathanartigen Platte zu einem transzententalen Rausch verschwimmt, Raum und Zeit sich auflösen, alle Wahrnehmungen mit halluzinogener Wirkung in einem eigenen hypnotischen Universum zu existieren scheinen.
Sechs Jahre nach dem Debüt Nihil Quam Vacuitas Ordinatum Est funktioniert die Metamorphose von Ad Nauseam hin zur ikonischen Größe jedenfalls losgelöst von der nominellen Gepflogenheiten seiner stilistischen Verankerung. Und dass Imperative Imperceptible Impulse ein Album ist, dass nachhaltig um eine Aufnahme in den Pantheon der Genre-Meisterwerke, vielleicht in gewissen Momenten sogar der Metal-Legenden verlangt, war eigentlich bereits während der ersten Begegnung mit diesem niemals erschöpfenden, sondern immer mehr gebenden, als nehmenden Monstrum ohne Zweifel klar. Seitdem ist diese knappe Stunde als pure Machtdemonstration nur unaufhörlich gewachsen.
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